Chveja war überrascht, daß Elemak so gut verstand, was für eine Rolle er jetzt in der Gemeinschaft spielte — und daß er sie zu akzeptieren schien. Sie wußte, daß seine Verbindung mit den meisten Leuten mittlerweile sehr dünn war, sah aber, daß das Band mit seinem ältesten Sohn hell und stark war. Und doch hatte er zugelassen, daß sein Sohn Zeuge seiner eigenen Erniedrigung geworden war. Es machte sie ziemlich traurig, daß er nicht so stark und stolz sein konnte, wie Protschnu es gern gehabt hätte. Das verursachte echten Schmerz in Protschnu, und doch trat Elemak dem offen gegenüber und …
Es sei denn, er
Nein, sie weigerte sich zu glauben, daß Elemak irgendeinen ausgeklügelten Plan schmiedete, der damit zu tun hatte, tiefen Groll im Herzen seines Sohnes zu wecken.
Ojkib war jetzt angezogen und ging zur Tür hinaus. Elemak deutete mit keiner Geste an, daß er ihm folgen wollte.
»Bist du nicht neugierig?« fragte Chveja, als sie Ojkib hinaus folgte.
»Ich habe schon einen gesehen«, sagte Elemak.
Als sie Issibs Haus erreichten, stand der Engel noch immer starr und reglos auf dem Dach. Issib und Huschidh und ihre Kinder waren draußen und schauten zu ihm hoch; auch die anderen liefen allmählich zusammen. »Er sieht so verängstigt aus«, sagte Chveja.
»Vor uns hat er keine Angst«, sagte Ojkib und zeigte zu den Bäumen. Auf den Ästen und im Unterholz konnte man die schattenhaften Gestalten von Wühlern ausmachen. »Ihr Wort für die Engel lautet
»Sie essen sie?«
»Sie bevorzugen die Kleinkinder«, sagte Ojkib. »Sagen wir einfach, daß die bilateralen Beziehungen zwischen Wühlern und Engeln auf einer ziemlich primitiven Ebene stattfinden.«
Aber Chveja sah nun etwas anderes. Der Engel auf dem Dach hatte die hellste, stärkste Verbindung, die sie je zwischen zwei Wesen gesehen hatte, und diese Verbindung führte zum Schiff. »Er ist wegen des anderen hier«, sagte sie. »Wegen des verletzten Engels im Schiff?«
»Das nehme ich an«, sagte Ojkib.
»Ich weiß es«, sagte sie.
»Er betet, daß wir ihn nicht den Teufeln übergeben, bevor er seinen … Bruder findet. Aber es ist mehr als ein Bruder.«
»Dann bringen wir ihn doch zu ihm«, sagte Chveja. Sie ging zum Dachrand, griff hinauf, bekam den Dachbalken zu fassen und kletterte die grobe Holzwand hinauf.
»Veja«, sagte Ojkib verärgert. »Du bist schwanger.«
»Und du stehst einfach nur da«, sagte sie.
Einen Augenblick später waren sie beide auf dem Dach. Der Engel schaute sie an, bewegte sich aber nicht. Ojkib streckte eine Hand aus. Chveja tat es ihm gleich.
Der Engel breitete die Schwingen aus, entfaltete sich wie ein Sonnenschirm. Die Wirkung war erstaunlich. Von einem kleinen, zitternden Ding verwandelte er sich plötzlich in einen großen, undeutlichen Schatten. So würde der verletzte Engel also aussehen, wäre er stark und gesund. Doch wie bei einem Schmetterling war sein Körper im Baldachin der Schwingen dünn und zerbrechlich. Nur der Kopf paßte noch zu den Proportionen der großen Spannweite der Schwingen. Der schwere, nickende Kopf.
»Tja, wir können ihn wohl kaum tragen«, sagte Ojkib und bedeutete dem Engel, er solle näher kommen. Der Engel machte einen unbeholfenen Schritt. »Ein großer Spaziergänger ist dieses Tier wohl kaum«, sagte Ojkib.
»Er ist kein Tier«, erwiderte Chveja. »Er ist ein sehr tapferer und verängstigter Mann, und er liebt seinen Bruder.«
»Sein anderes Ich«, sagte Ojkib. »So lautet das Wort. Sein Ander-Ich.«
»Dann führen wir ihn zu ihm.« Sie ging zum Dachrand, setzte sich und schwang sich hinab. Ojkib folgte ihr. Und einen Augenblick später lugte der Engel über den Rand und stieß dann herab. Einige Kinder kreischten und wichen ein Stück zurück.
Chveja sah, daß die Wühler im Wald näher kamen; aber offensichtlich wagten sie es nicht, die Grenze zum menschlichen Territorium zu überschreiten.
Ojkib erklärte Nafai und Volemak, was er und Chveja gesehen und daraus geschlossen hatten.
»Wollen wir die beiden Engel zusammenbringen?« fragte Nafai. »Wie wird seine Reaktion sein, wenn er sieht, wie schlimm sein Bruder verletzt ist?«
»Wichtiger ist doch«, sagte Volemak, »wie wird seine Reaktion sein, wenn wir ihn nicht zu seinem Bruder lassen?«
Nafai nickte. Derweil führten Ojkib und Chveja den Engel zum Schiff.