Die Gegner sind uns gefolgt. Es müssen jetzt mindestens zwanzig sein; sie haben Zuzug von anderen Nazis bekommen. Ich sehe ein paar ihrer scheißfarbenen Uniformen. Sie versuchen, auf der Seite, wo Köhler und ich stehen, durchzubrechen. Im Gedränge merke ich aber, daß Hilfe für uns von hinten kommt. Eine Sekunde später sehe ich, daß Riesenfeld mit zusammengelegter Aktentasche, in der, hoffe ich, Granitproben sind, auf jemand einschlägt, während Renée de la Tour einen hochhackigen Schuh ausgezogen und an der Vorderseite ergriffen hat, um mit dem Hacken loszudreschen.
Während ich das sehe, rennt mir jemand den Schädel in den Magen, daß mir die Luft mit einem Knall aus dem Munde springt. Ich schlage schwach, aber wild um mich und habe irgendwoher das sonderbare Gefühl einer vertrauten Situation. Automatisch hebe ich ein Knie, weil ich erwarte, daß der Rammbock wiederkommt. Gleichzeitig sehe ich eines der schönsten Bilder, das ich mir in dieser Lage vorstellen kann: Lisa, die wie die Nike von Samothrake über den Neumarkt heranstürmt, neben ihr Bodo Ledderhose und hinter ihm sein Gesangverein. Im gleichen Augenblick spüre ich den Rammbock aufs neue und sehe Riesenfelds Aktentasche wie eine gelbe Flagge niedergehen. Gleichzeitig macht Renée de la Tour eine blitzschnelle Bewegung nach unten, der ein Aufheulen des Rammbocks folgt. Renée schreit mit markiger Generalstimme:»Stillgestanden, Schweine!«Ein Teil der Angreifer fährt unwillkürlich zusammen. Dann tritt der Gesangverein in Aktion, und wir sind frei.
Ich richte mich auf. Es ist plötzlich still. Die Angreifer sind geflohen. Sie schleppen ihre Verwundeten mit. Hermann Lotz kommt zurück. Er ist dem fliehenden Gegner wie ein Zentaur nachgesprengt und hat noch einem eine eiserne Ohrfeige verabreicht. Wir sind nicht schlecht weggekommen. Ich habe eine birnenartige Beule am Kopf und das Gefühl, mein Arm sei gebrochen. Er ist es nicht. Außerdem ist mir sehr übel. Ich habe zuviel getrunken, um an Magenstößen Gefallen zu finden. Wieder quält mich die sich nicht erinnernde Erinnerung. Was war das doch?»Ich wollte, ich hätte einen Schnaps«, sage ich.
»Den kriegst du«, erwidert Bodo Ledderhose.»Kommt jetzt, bevor die Polizei erscheint.«
In diesem Moment ertönt ein scharfes Klatschen. Wir drehen uns überrascht um. Lisa hat auf jemand eingeschlagen.»Du verfluchter Saufbruder!«sagt sie ruhig.»So sorgst du für Heim und Frau -«
»Du -«gurgelt die Gestalt.
Lisas Hand klatscht zum zweitenmal nieder. Und jetzt, plötzlich, löst sich mein Erinnerungsknoten. Watzek! Da steht er und hält sich merkwürdigerweise den Hintern fest.
»Mein Mann!«sagt Lisa ins allgemeine über den Neumarkt hin.»Mit so was ist man nun verheiratet.«
Watzek antwortet nicht. Er blutet stark. Die alte Stirnwunde, die ich ihm geschlagen habe, ist wieder aufgegangen. Außerdem rinnt Blut aus seinen Haaren.»Waren Sie das?«frage ich Riesenfeld leise.»Mit der Aktentasche?«
Er nickt und betrachtet Watzek aufmerksam.»Wie man sich manchmal so trifft«, sagt er.
»Was hat er am Hintern?«frage ich.»Weshalb hält er den fest?«
»Ein Wespenstich«, erwidert Renée de la Tour und befestigt eine lange Hutnadel wieder in einem eisblauen Samtkäppchen auf ihren Locken.
»Meine Hochachtung!«Ich verneige mich vor ihr und trete auf Watzek zu.»So«, sage ich,»jetzt weiß ich, wer mir seinen Schädel in den Bauch gerannt hat! Ist das der Dank für meinen Unterricht in besserer Lebensart?«
Watzek starrt mich an.»Sie? Ich habe Sie nicht erkannt! Mein Gott!«
»Er erkennt nie jemanden«, erklärt Lisa sarkastisch.
Watzek bietet einen betrüblichen Anblick. Dabei bemerke ich, daß er meinen Ratschlägen tatsächlich gefolgt ist. Er hat sich seine Mähne kurz schneiden lassen – mit dem Erfolg, daß Riesenfeld ihm einen härteren Schlag versetzen konnte -, er trägt sogar ein weißes, neues Hemd – aber alles, was er damit erreicht hat, ist, daß sich das Blut nur noch deutlicher darauf abzeichnet als auf einem anderen. Er ist ein Unglücksrabe!
»Nach Hause! Du Saufaus und Raufbold!«sagt Lisa und geht. Watzek folgt ihr gehorsam. Sie wandern über den Neumarkt, ein einsames Paar. Niemand folgt ihnen. Georg hilft Lotz, seinen künstlichen Arm wieder halbwegs zurechtzubiegen.
»Kommt«, sagt Ledderhose.»In meinem Lokal können wir noch trinken. Geschlossene Gesellschaft!«
Wir sitzen eine Zeitlang mit Bodo und seinem Verein. Dann gehen wir nach Hause. Der Morgen schleicht grau herauf. Ein Zeitungsjunge kommt vorbei. Riesenfeld winkt ihm zu und kauft ein Blatt. Mit großen Lettern steht auf der Vorderseite:
»Nun?«sagt Riesenfeld zu mir.
Ich nicke.
»Kinder, es kann tatsächlich sein, daß ich pleite bin«, erklärt Willy.»Ich habe noch auf Baisse spekuliert.«Er sieht betrübt auf seinen grauen Anzug und dann auf Renée.»Na, wie gewonnen, so zerronnen – was ist schon Geld, wie?«
»Geld ist sehr wichtig«, erwidert Renée kühl.»Besonders, wenn man es nicht hat.«