Vom oberen Rand der Schlucht trennte ihn etwa ein Kilometer in Luftlinie, aber an dieser Stelle war an einen Abstieg nicht zu denken. Eine einzige Schicht aus Metallgestrüpp bedeckte die Hänge. Er ging also bergan und fragte sich die ganze Zeit, ob er den Abstieg auf den Grund der Schlucht an einer näher gelegenen, nicht an der, vorgesehenen Stelle wagen sollte. Denn dorthin würde er wenigstens vier Stunden brauchen. Selbst wenn es gelänge, mit dem Wagen zurückzufahren, mußte er für den Rückweg weitere fünf Stunden rechnen, und wieviel Zeit würde allein der Abstieg in die Schlucht beanspruchen, von der Suche ganz zu schweigen. Mit einemmal schien ihm der ganze Plan kein Gran gesunden Menschenverstandes zu enthalten. Es war einfach eine ebenso eitle wie heroische Geste, mit der Horpach ihn geopfert hatte, um das eigene Gewissen zu beschwichtigen.
Eine Weile war er so wütend — er hatte sich wie ein kleiner Schuljunge hinters Licht führen lassen, denn der Astrogator hatte alles im vorhinein festgelegt — , daß er seine Umgebung kaum wahrnahm. Allmählich faßte er sich. Es gibt kein Zurück, hämmerte er sich ein, ich werde es versuchen.
Wenn mir der Abstieg nicht gelingt, wenn ich bis drei Uhr niemanden gefunden habe, dann kehre ich um. Es war Viertel nach sieben. Er bemühte sich, mit langen, gleichmäßigen, aber nicht zu raschen Schritten voranzukommen, weil der Sauerstoffverbrauch bei jeder Anstrengung ruckhaft anstieg. Am rechten Handgelenk befestigte er den Kompaß, um nicht von der einmal gewählten Richtung abzuweichen.
Einige Male mußte er jedoch Klüfte mit abschüssigen Wänden umgehen. Die Schwerkraft war auf der Regis bedeutend geringer als auf der Erde, das ließ ihm wenigstens selbst in diesem schwierigen Gelände verhältnismäßig viel Bewegungsfreiheit. Die Sonne war höher gestiegen.
Sein Gehör, das die ständige Begleitung all der Laute gewohnt war, mit denen ihn auf den bisherigen Expeditionen die Maschinen wie mit einer schützenden Barriere umringt hatten, war nun wie bloßgelegt und besonders reizempfindlich.
Dann und wann vernahm er nur, jetzt viel schwächer als zuvor, das rhythmische Singen der Sonde.
Dafür erregte jeder Windstoß, der um die Felszacken fauchte, seine Aufmerksamkeit, da er darin das wohlbekannte feine Summen zu hören glaubte, an das er sich so gut erinnerte. Allmählich hatte er sich an den Marschschritt gewöhnt und konnte nun, mechanisch von Stein zu Stein stapfend, ungehindert nachdenken. Er trug einen Schrittzähler in der Tasche. Er wollte nicht zu früh nach dem Zeiger sehen und entschloß sich, das erst nach einer Stunde zu tun. Doch er hielt es nicht aus und zog das uhrähnliche, kleine Gerät hervor, bevor die Stunde vorüber war. Aber er war schmerzlich enttäuscht. Keine drei Kilometer hatte er zurückgelegt. Große Höhenunterschiede hatte er überwinden müssen, das hatte ihn aufgehalten. Also nicht drei, auch nicht vier Stunden, sondern wenigstens noch sechs, dachte Rohan. Er zog die Karte hervor und richtete sie kniend von neuem ein. 700 bis 800 Meter weiter östlich war der Kämm der Schlucht zu sehen. Die ganze Zeit war er ungefähr parallel dazu marschiert. An einer Stelle wurde das schwarze Gesträuch an den Hängen von einer fadendünnen, gewundenen Lücke geteilt; wahrscheinlich war das ein ausgetrocknetes Bachbett. Er bemühte sich, es genauer zu erkennen. Auf den Knien, in dem Wind, der ihm um die Ohren pfiff, durchlebte er Augenblicke der Unentschlossenheit.
Als wüßte er selbst nicht genau, was er tat, erhob er sich, steckte mechanisch die Karte ein, bog rechtwinklig von seiner bisherigen Richtung ab und strebte der Steilwand der Schlucht zu.
Er näherte sich den stummen, zerklüfteten Felsen, als könnte sich jeden Augenblick der Boden unter ihm auftun.
Entsetzliche Angst krampfte ihm das Herz zusammen.
Doch er ging weiter, noch immer mit den Händen ausholend, die ihm furchtbar leer schienen. Mit einem Ruck blieb er stehen und schaute ins Tal, auf die Wüste hinunter, wo der „Unbesiegbare“ war. Er konnte das Raumschiff nicht sehen, es war hinter dem Horizont. Das wußte er, doch er blickte in diesen rötlichen Himmel, der sich langsam mit bauschigen Wolken füllte. Das Singen der Sondensignale wurde so schwach, daß er nicht sicher war, ob er es sich vielleicht nur noch einbildete. Warum schwieg der „Unbesiegbare“?
Weil er dir nichts mehr zu sagen hat, antwortete er sich selbst. Die oberen, an groteske, verwitterte Statuen erinnernden Felsbrocken waren in Reichweite. Die Schlucht tat sich vor ihm auf wie ein riesiger Graben voller Finsternis.
Die Sonnenstrahlen reichten noch nicht bis zur Mitte der schwarzbedeckten Wände hinab. Hier und da ragten aus dem borstigen Dickicht kalksteinähnliche, weiße Felsnadeln auf. Mit einem Blick umfaßte er den ganzen, riesigen Raum bis zu dem steinigen Grund der Schlucht, der anderthalb Kilometer tief unter ihm lag.