»Nichts leichter als das«, antwortete der andere grinsend. »Du gehst zwei Stunden nach Süden, biegst am hungrigen Löwen nach rechts ab, gehst durch das Gebiet der Haie, bis du auf Olannorys Hehlerei triffst, dann über den Platz des Roten Feuers und –«
»In Ordnung«, unterbrach ihn Tally. »Führe mich hin. Aber ich kann dich nicht bezahlen.«
»Das brauchst du auch nicht«, sagte der Blonde. Er grinste. »Eigentlich bin ich Straßenräuber, weißt du? Tagsüber schneide ich den Leuten die Kehle durch. Aber ab und zu macht es mir Spaß, eine gute Tat zu tun.« Tally war nicht sicher, ob die Worte des Blonden tatsächlich so scherzhaft gemeint waren, wie sie klangen. Aber sie fragte ihn auch nicht danach. Sie war einfach froh, in dieser Stadt voller Wahnsinniger und Mörder auf einen Menschen getroffen zu sein, der freundlich zu ihr war.
Sie sprachen sehr wenig, während sie sich wieder vom Schlund entfernten, obwohl Tally zu spüren glaubte, daß ihr vermeintlicher Retter vor Neugier schier aus den Nähten platzte. Aber ihr fielen auch die raschen, nervösen Blicke auf, die er immer wieder in die Runde warf, und die Art, auf die er die Hand auf dem Schwert ruhen ließ. Das Viertel, durch das sie sich bewegten, schien nicht halb so harmlos zu sein, wie es wirkte.
Aber sie erreichten unbehelligt den Platz, von dem er gesprochen hatte, und kurz darauf erneut den Schlund. Tally begriff, daß sie einen Halbkreis geschlagen hatten. Aber der Rand der Welt unterschied sich hier doch gewaltig von dem, an dem sie zusammengetroffen waren. Hier
»Die Gegend dort hinten ist nicht sicher«, antwortete er. »Es ist das Gebiet der Geier.«
»Geier?«
»Du bist nicht aus Schelfheim, wie?« Er lächelte verzeihend. »Eine Straßenbande. Die meisten sind noch Kinder, aber das macht sie nicht weniger gefährlich. Ich hatte meine Gründe, anzunehmen, daß du springen wolltest. Die Stelle dort ist so beliebt, daß die Selbstmörder manchmal Schlange stehen müssen«, fuhr er mit einem leisen Lachen fort. »Die Geier haben sich auf sie eingestellt, weißt du? Sie lauern ihnen auf und plündern sie aus, ehe sie springen können.«
»Und wer gar nicht springen wollte, dem helfen sie nach, wie?« vermutete Tally.
Der Blonde grinste. »Manchmal. Aber hier sind wir sicher. Und es ist nicht mehr sehr weit bis zu Karans Haus. Bist du schwindelfrei?«
Tally blickte ihn verwundert an, ehe sie bemerkte, daß seine Hand auf eine gut meterbreite Lücke in der Mauer wies, nur noch wenige Schritte vor ihnen. »Du willst... dort hinunter?« fragte sie ungläubig.
»Ich nicht. Aber du – wenn du wirklich zu Karan willst, heißt das.«
Tally antwortete nicht. Statt dessen trat sie mit einem raschen Schritt an die Mauer heran, beugte sich vor und blickte aus angestrengt zusammengepreßten Augen in die Tiefe. Die Dunkelheit war hier nicht weniger umfassend als weiter im Westen, aber sie erkannte trotzdem den schmalen, aus Holz und Tauen gebauten Steg, der unter ihr schräg in die Tiefe führte. An seinem Ende erhob sich ein massiges Etwas aus der Schwärze.
»Karan ist ein komischer Kauz«, erklärte ihr Begleiter.
»Er lebt tatsächlich dort unten. Er behauptet, es wäre der einzige Ort auf der Welt, an dem er sich sicher fühlt. Also?«
Tally zögerte. Allein der Gedanke, auf den schwankenden Steg hinauszutreten, erfüllte sie mit Übelkeit. Aber sie hatte keine große Wahl, wenn sie Weller wiedersehen wollte. Sie nickte.
Der Weg nach unten war ein Alptraum. Der Steg war noch schmaler, als sie geglaubt hatte. Die hölzernen Stufen waren feucht geworden und so schlüpfrig wie Eis. Ein straffgespanntes, allerdings kaum fingerdickes Tau erfüllte die Funktion eines Geländers, aber als Tally sich daran festhalten wollte, begann die gesamte Konstruktion zu zittern und schwanken, so daß sie die Hand hastig zurückzog und sich statt dessen gegen die Felswand preßte.
Sie hatte behauptet, schwindelfrei zu sein, und bisher hatte das auch gestimmt – aber bisher war sie auch niemals an einem fünf Meilen tiefen Abgrund entlangbalanciert. Die Schwärze unter ihr begann sich zu drehen. Ihr wurde übel. Voller Neid blickte sie auf ihren Führer hinab, der sich mit geradezu unverschämter Sicherheit auf dem schwankenden Steg bewegte.
Aber schließlich hatten sie es geschafft. Vor Tally ragte plötzlich eine graue, schräg nach außen geneigte Wand auf, in der sich eine Tür öffnete. Ihr Begleiter trat rasch hindurch, drehte sich herum und zog Tally mit einer kraftvollen Bewegung zu sich. Tally atmete hörbar auf, als unter ihren Füßen wieder massiver Stein war. Die Vorstellung, daß sich unter diesem Stein nichts mehr befand, versuchte sie zu verdrängen.
»Willkommen in Karans Haus«, sagte der Blonde.
Tally sah ihn verwirrt an. »Bist du... Karan?« fragte sie.