Tally schlug ihre Arme beiseite und fiel unsanft auf die Seite. Aber sie ignorierte den Schmerz – wenigstens versuchte sie es – und stemmte sich sofort wieder hoch.
»Wo ist... mein Stein, du blödes Krötengesicht?« preßte sie zwischen zusammengepreßten Zähnen hervor.
Essk blickte sie einen Moment lang mit dem einzigen Ausdruck an, zu dem sie fähig war – nämlich keinem – dann wandte sie sich um und verschwand schlurfend in der Dunkelheit, während Tally mit einem nur halb unterdrückten Schmerzlaut vollends zurücksank, sich aber schon nach Sekunden abermals in eine halb sitzende, halb liegende Stellung hochstemmte und an sich hinuntersah.
Der Stein war nicht das einzige, was verschwunden war. Die Waga hatte sie vollkommen entkleidet, während sie bewußtlos gewesen war – was allerdings nicht hieß, daß sie nackt gewesen wäre. Ihre Haut war zu mehr als zwei Dritteln von sauber gewickelten, weißen Verbänden bedeckt, unter denen hier und da eine grüngraue, übelriechende Salbe hervorquoll. Bis zu den Knien hinauf waren die Verbände so dick, daß es aussah, als trüge sie Stiefel, und sie spürte erst jetzt, daß sich auch um ihren Kopf etwas Kühles, sehr Festes spannte. Sie sah aus wie eine Mumie, die man vergessen hatte einzugraben, dachte sie zornig.
Und das war lange nicht alles, was sich verändert hatte. Ihr Verstand schien länger als ihr Körper zu brauchen, um wach zu werden, denn sie bemerkte erst jetzt, daß sie nicht auf Sand oder einer Decke, sondern auf hartem Stein lag, und daß die Dunkelheit, die sie einhüllte, gemauert war, nicht das lichtfressende Schwarz des Sturmes. Und daß es sehr ruhig war. Das unerträgliche Heulen und Wimmern war verstummt, und um sie herum herrschte jene hallende Stille, die das Innere eines großen Gebäudes oder einer Höhle verriet.
Essk kam zurück, begleitet von Hrhon, dessen Arme mit Kleidern beladen waren. In seiner rechten Hand glitzerte das kleine Goldkettchen mit ihrem Stein. Tally richtete sich auf, riß die Kette an sich und streifte sie hastig über. Sie bezahlte die Bewegung mit einer neuen Welle brennender Schmerzen, die ihr diesmal sogar die Tränen in die Augen zwang, aber allein der Gedanke, ohne den Stein auch nur in der Nähe des Turmes zu sein, trieb sie vor Entsetzen fast in den Wahnsinn.
»Was fällt euch ein, ihr Narren?« stöhnte sie. »Ich lasse euch in euren Schalen kochen, wenn ihr den Stein auch nur noch einmal anrührt!«
»Verssseiht, Herrin«, sagte Hrhon kleinlaut. »Aber ihr wahrrrt sssehr krank. Wir musssten euch fffflegen.«
»So?« murmelte Tally. »Mußtet ihr das?« Sie richtete sich auf – sehr vorsichtig – verbarg für einen Moment das Gesicht in den Händen und wischte sich unauffällig die Tränen fort, als sie die Finger herunternahm. »Aber wer hat euch erlaubt, mir den St-«
Sie verstummte mitten im Wort, als ihr Blick auf die Kleider fiel, die Hrhon gebracht und neben ihr abgelegt hatte. Verwirrt blickte sie den Waga an, stützte sich mit der linken Hand auf und griff mit der anderen nach den Kleidungsstücken: Hemd und Hose aus dunkelbraunem, sehr kunstvoll gegerbtem Leder, dazu passende Stiefel und ein etwas zu breiter, mit schimmernden Pailletten besetzter Gürtel, an dem eine gutbestückte Schwertscheide hing. Es waren sehr gute, kostbare Kleider, die eines Königs oder Fürsten würdig gewesen wären. Und es waren ganz entschieden nicht
»Woher habt ihr das?« fragte sie verwirrt. »Und wo... wo sind wir hier überhaupt?« Plötzlich erschrak sie; sehr heftig, als sie zum zweiten Mal begriff, daß sie nicht mehr im Schutz der toten Hornbestien in der Wüste lag. Einen Moment lang fragte sie sich mit einer Mischung aus-Entsetzen und Zorn, ob sie lange genug bewußtlos gewesen war, daß die beiden Waga sie aus der Wüste herausgebracht haben konnten. Nein.
»Esss sssind noch mehr Kleider da«, antwortete Hrhon. »Oben.« Er deutete mit der Hand auf die unsichtbare Decke über seinem Kopf.
»Oben?« Tally starrte das grüngeschuppte Wesen verwirrt an. Einen Moment lang fragte sie sich allen ernstes, ob sie vielleicht noch immer draußen in der Wüste lag, schon halb tot und fiebernd, und dies alles nur träumte. Aber die Schmerzen in ihren Beinen und das seidenweiche Leder zwischen ihren Fingern waren einfach zu real, um Teil eines Traumes zu sein.
»Wo sind wir hier?« wiederholte sie ihre Frage.
»Wohin habt ihr mich gebracht?«
Sie wußte die Antwort, eine halbe Sekunde, ehe Hrhon sie gab. Trotzdem trafen sie die beiden Worte rnit der Wucht eines Peitschenhiebes.
»Im Turm«, sagte der Waga. »Dher Sssturm issst ssslimmer gheworden. Viel ssslimmer. Whir musssten es rissskiehren.«
»Im Turm?« Tally wiederholte das Wort, und sie sah den schwarzen Stein hinter Hrhon, der wie Glas glänzte, und sie wußte, daß der Waga die Wahrheit sprach, aber sie weigerte sich auch, es zu glauben, einfach, weil es unmöglich war,