Harry massierte seine Stirn mit den Handknöcheln. Was er wirklich wollte (und er schämte sich beinahe, es sich selbst einzugestehen), war so etwas wie eine Mutter oder einen Vater: ein erwachsener Zauberer, dessen Rat er erfragen konnte, ohne sich blöd vorzukommen, jemand, der ihn gern hatte und der Erfahrung hatte mit schwarzer Magie… Und dann fiel es ihm wie Schuppen von den Augen. Es war so einfach und so offensichtlich, daß er kaum fassen konnte, wie lange er gebraucht hatte – Sirius.
Harry sprang vom Bett, stürzte durchs Zimmer und setzte sich an seinen Schreibtisch; er zog ein Blatt Pergament zu sich her, füllte seine Adlerfeder mit Tinte und schrieb: Lieber Sirius, hielt inne und überlegte, wie er sein Problem am besten ausdrücken konnte. Warum, so wunderte er sich immer noch, hatte er nicht sofort an Sirius gedacht? Doch wenn er genauer überlegte, war es vielleicht gar nicht so merkwürdig – schließlich hatte er erst vor zwei Monaten herausgefunden, daß Sirius sein Pate war.
Es gab einen einfachen Grund, warum Sirius bis dahin in Harrys Leben überhaupt nicht aufgetaucht war – Sirius hatte in Askaban gesteckt, dem schrecklichen Zauberergefängnis, das von Dementoren genannten Wesen bewacht wurde, blinden, Seelen saugenden Finsterlingen, die dann nach Hogwarts gekommen waren, um den entflohenen Sirius zu suchen. Doch Sirius war unschuldig – die Morde, für die er verurteilt worden war, hatte Wurmschwanz begangen, Voldemorts Helfer, den jetzt fast alle für tot hielten. Harry, Ron und Hermine wußten es jedoch besser; letztes Jahr waren sie Wurmschwanz von Angesicht zu Angesicht begegnet, doch nur Professor Dumbledore hatte ihnen diese Geschichte abgenommen.
Eine wunderbare Stunde lang hatte Harry geglaubt, endlich die Dursleys verlassen zu können, denn Sirius hatte ihm ein Zuhause angeboten, sobald sein Name rein gewaschen war. Doch diese Chance war ihm wieder geraubt worden – Wurmschwanz war entkommen, bevor sie ihn zum Zaubereiministerium hatten bringen können, und Sirius mußte fliehen, um sein Leben zu retten. Harry hatte ihm geholfen, auf dem Rücken eines Hippogreifs namens Seidenschnabel zu entkommen, und seither war Sirius auf der Flucht. Der Gedanke an ein Zuhause, das Harry vielleicht gewonnen hätte, wenn Wurmschwanz nicht entkommen wäre, hatte ihn den ganzen Sommer über nicht losgelassen. Mit der Vorstellung im Kopf, den Dursleys um ein Haar für immer entkommen zu sein, war es Harry besonders schwer gefallen, zu ihnen zurückzukehren.
Und doch hatte Sirius Harry in manchem geholfen, auch wenn er nicht bei ihm sein konnte. Dank Sirius hatte Harry jetzt all seine Schulsachen bei sich im Zimmer. Die Dursleys hatten ihm das noch nie zuvor erlaubt; sie hatten immer gewollt, daß es Harry so elend wie möglich ginge, und zugleich Angst vor seinen Fähigkeiten gehabt, deshalb hatten sie seinen Schulkoffer bisher im Schrank unter der Treppe eingeschlossen. Doch ihre Haltung hatte sich geändert, als sie herausgefunden hatten, daß Harrys Pate ein gefährlicher Mörder war – Harry hatte bequemerweise vergessen ihnen zu sagen, daß Sirius unschuldig war.
Harry hatte zwei Briefe von Sirius erhalten, seit er wieder im Ligusterweg wohnte. Nicht Eulen hatten sie überbracht (wie es unter Zauberern üblich war), sondern große, hellbunte tropische Vögel. Hedwig hatte diese glamoureusen Eindringlinge gar nicht gemocht; nur äußerst widerwillig erlaubte sie ihnen, aus ihrem Wassernapf zu trinken, bevor sie wieder davonflogen. Harry jedoch mochte die Vögel; sie erinnerten ihn an Palmen und weißen Sand, und er hoffte, Sirius, wo immer er war (was er in seinen Briefen nie verriet, falls sie abgefangen wurden), würde es sich gut gehen lassen. Harry konnte es sich kaum vorstellen, daß die Dementoren unter der strahlenden Sonne lange überleben würden; vielleicht war Sirius deshalb nach Süden gegangen. Seine beiden Briefe, unter dem äußerst nützlichen losen Dielenbrett unter Harrys Bett versteckt, klangen recht fröhlich, und er hatte Harry jedes Mal aufgefordert, ihm zu schreiben, falls er ihn brauchen sollte. Nun, jetzt brauchte er ihn wirklich…
Das kalte graue Licht, das den Sonnenaufgang ankündigte, drang allmählich ins Zimmer und Harrys Lampe schien zu verblassen. Schließlich, als die Sonne aufgegangen war und die Wände seines Zimmers in Gold getaucht hatte, als Geräusche aus Onkel Vernons und Tante Petunias Zimmer zu hören waren, räumte Harry die zerknitterten Pergamente von seinem Schreibtisch und las den fertigen Brief noch einmal durch.
Lieber Sirius,
danke für deinen letzten Brief, dieser Vogel war so riesig, daß er es kaum durch mein Fenster geschafft hat.