Langsam schwebte ein Dementor daraus hervor; sein vermummtes Gesicht war Harry zugewandt; mit einer glitzernden, schorfüberzogenen Hand drückte er sich den Mantel an den Leib. Die Lampen im Klassenzimmer flackerten und erloschen. Der Dementor trat aus der Kiste und schwebte tief und rasselnd atmend auf Harry zu. Eine Welle stechender Kälte brach über ihn herein -
»Expecto patronum!«, schrie Harry.»Expecto patronum! Expecto -«
Doch das Klassenzimmer und der Dementor verschwammen vor seinen Augen… Wieder fiel Harry durch dichten weißen Nebel, und die Stimme seiner Mutter, lauter denn je, hallte in seinem Kopf wider -
»Nicht Harry! Nicht Harry! Bitte – ich tu alles -«
Schallendes, schrilles Gelächter – er genoß ihr Grauen -
»Harry!«
Jäh erwachte Harry wieder zum Leben. Er lag ausgestreckt auf dem Fußboden. Die Lampen im Klassenzimmer brannten wieder. Er mußte nicht erst fragen, was passiert war.
»Tut mir Leid«, murmelte er und setzte sich auf. Kalter Schweiß rann ihm hinter der Brille herab.
»Geht's dir gut?«, fragte Lupin.
»Ja…«Harry zog sich an einem Pult hoch und lehnte sich dagegen.
»Hier -«Lupin reichte ihm einen Schokoladenfrosch.»Iß das, bevor wir es noch mal versuchen. Ich hab nicht erwartet, daß du es beim ersten Mal schaffst, im Gegenteil, das hätte mich sehr überrascht.«
»Es wird schlimmer«, murmelte Harry und biß dem Frosch den Kopf ab.»Diesmal hab ich sie noch lauter gehört – und ihn – Voldemort -«
Lupin sah noch blasser aus als sonst.
»Harry, wenn du nicht weitermachen willst, verstehe ich das nur allzu gut -«
»Ich will!«, sagte Harry wild entschlossen und stopfte sich den Rest des Schokofrosches in den Mund.»Ich muß doch! Was ist, wenn die Dementoren bei unserem Spiel gegen Ravenclaw auftauchen? Ich darf keinesfalls wieder abstürzen. Wenn wir dieses Spiel verlieren, können wir den Quidditch-Pokal vergessen!«
»Na schön…«, sagte Lupin.»Vielleicht nimmst du eine andere Erinnerung, ein glückliches Erlebnis, würde ich sagen, auf das du dich konzentrierst… Das letzte war offenbar nicht stark genug…«
Harry dachte angestrengt nach und fand schließlich eine neue Erinnerung: Als er letztes Jahr die Hausmeisterschaft gewonnen hatte, war er sicher überaus glücklich gewesen. Wieder umklammerte er den Zauberstab und nahm seinen Platz in der Mitte des Klassenzimmers ein.
»Bereit?«, fragte Lupin und packte den Deckel der Kiste.
»Bereit«, sagte Harry und versuchte angestrengt, seinen Kopf mit glücklichen Gedanken an den Sieg von Gryffindor zu füllen und nicht mit düsteren an das, was geschehen würde, wenn sich die Kiste öffnete.
»Los!«, sagte Lupin und hob den Deckel. Wieder wurde es eiskalt und dunkel im Zimmer. Der Dementor glitt tief atmend auf ihn zu; eine verweste Hand langte nach Harry -
»Expecto patronum«, rief Harry,»expecto patronum! Expecto pat-«
Weißer Nebel erstickte ihm die Sinne… große, verschwommene Gestalten bewegten sich um ihn her… dann hörte er eine neue Stimme, die Stimme eines Mannes, der schrie, von Angst überwältigt -
»Lily, nimm Harry und lauf! Er ist es! Schnell fort, ich halte ihn auf -«
Jemand stolperte hastig aus einem Zimmer – krachend zerbarst eine Tür – ein schrilles Auflachen -
»Harry! Harry… komm zu dir…«
Lupin gab Harry eine saftige Ohrfeige. Diesmal dauerte es eine Weile, bis Harry begriff, warum er auf einem staubigen Fußboden lag.
»Ich hab meinen Dad gehört«, nuschelte er.»Das ist das erste Mal, daß ich ihn gehört hab – er wollte es ganz allein mit Voldemort aufnehmen, damit meine Mutter fliehen konnte…«Plötzlich spürte Harry Tränen auf seinem Gesicht, die sich mit dem Schweiß vermischten. Rasch senkte er den Kopf, als wolle er sich den Schuh binden, und wischte sich das Gesicht an seinem Umhang trocken.
»Du hast James gehört?«, sagte Lupin mit merkwürdig fremd klingender Stimme.
»Ja…«Harry hatte sich inzwischen die Tränen abgewischt und sah zu ihm auf.»Warum – Sie haben meinen Vater doch nicht etwa gekannt?«
»Offen gesagt – ja, das hab ich«, sagte Lupin.»Wir waren Freunde in Hogwarts. Hör zu, Harry – vielleicht sollten wir es für heute Abend dabei belassen. Dieser Zauber ist unglaublich schwierig… ich hätte nicht vorschlagen sollen, daß du all das auf dich nimmst…«
»Nein!«, sagte Harry und richtete sich auf.»Ich will noch einen Versuch! Ich hab einfach noch nicht an mein glücklichstes Erlebnis gedacht, daran liegt's… warten Sie…«
Er zermarterte sich den Kopf Ein wirklich, wirklich glückliches Erlebnis… eines, das er in einen guten, starken Patronus verwandeln konnte…
Der Augenblick, in dem er erfahren hatte, daß er ein Zauberer war und die Dursleys verlassen und nach Hogwarts gehen würde! Wenn das keine glückliche Erinnerung war, dann wußte er auch nicht weiter… Er dachte ganz fest daran, wie er sich gefühlt hatte, als ihm klar wurde, daß er den Ligusterweg verlassen würde, stand auf und stellte sich erneut vor die Kiste.
»Fertig?«, fragte Lupin mit einem Gesichtsausdruck, als tue er etwas gegen besseres Wissen.»Denkst du ganz fest an dein Erlebnis? Also dann – los!«