„Ja! Eine Königin will das sein! Das wollen wir mal sehn!" sagte eine Stimme. Dann befahl eine andere: „Ein Hoch auf die Königin von Colney Hatch", und viele stimmten mit ein. Ein rosiger Hauch überflog das Gesicht der Königin, und fast unmerklich verbeugte sie sich. Doch da verklangen die Hochrufe und verwandelten sich zu schallendem Gelächter, und die Hexe begriff, daß man sich nur über sie lustig machte. Schlagartig verwandelte sich der Ausdruck auf ihrem Gesicht, und sie wechselte das Messer von ihrer Rechten zur Linken. Dann geschah ohne jegliche Vorwarnung etwas ganz Furchtbares. Mühelos und ganz nebenbei, als wäre das die naheliegendste Sache der Welt, griff sie mit der Rechten nach oben und brach einen Seitenarm vom Laternenfpahl. Auch wenn Jadis hier in unserer Welt ihre Zauberkräfte verloren hatte, ihre Körperkraft war ihr geblieben. Sie brach die Eisenstange ab wie einen morschen Ast. Dann warf sie ihre neue Waffe hoch in die Luft, fing sie wieder auf, zückte sie und zwang das Pferd nach vorn.
Jetzt! dachte Digory. Rasch lief er zwischen dem Pferd und dem Gartenzaun hindurch. Wenn nur das Pferd einen Augenblick stillstehen wollte, damit er die Hexe an der Ferse packen konnte!
In diesem Moment war ein ekelhafter Schlag zu hören, dann folgte ein dumpfer Aufschlag. Die Hexe hatte ihre Stange auf den Helm des Polizisten niedersausen lassen, und der Mann war umgefallen wie vom Blitz getroffen.
„Schnell, Digory! Wir müssen dem Ganzen ein Ende machen!" hörte er neben sich eine Stimme. Es war Polly, die sofort heruntergerannt war, als sie ihr Bett hatte verlassen dürfen.
„Phantastisch, daß du da bist!" rief Digory. „Halte dich gut an mir fest! Um den Ring mußt
Eben erklang wieder ein Schlag, und der nächste Polizist sank zu Boden. Ein wütender Aufschrei kam aus der Menge. „Holt sie runter vom Pferd! Besorgt ein paar Pflastersteine! Alarmiert die Armee!" Aber die meisten waren darauf bedacht, daß sie der Hexe nicht in die Quere kamen. Nur der Kutscher, offensichtlich der Mutigste und gleichzeitig der Freundlichste von allen, wich nicht zurück. Vorsic htig der Eisenstange ausweichend, rannte er hin und her und versuchte, die Zügel seines Pferdes zu packen.
Wieder erklang ein empörter Aufschrei. Ein Stein sauste über Digorys Kopf hinweg. Dann erschallte glockenklar die Stimme der Hexe, und zum erstenmal klang sie fast glücklich: „Ihr Elenden! Dafür werdet ihr teuer bezahlen, sobald ich eure Welt erobert habe! Kein Stein soll auf dem anderen bleiben in eurer Stadt! Ich werde mit ihr machen, was ich mit Charn, Felinda, Sorlois und Bramandin gemacht habe."
Jetzt gelang es Digory endlich, sie am Knöchel zu pakken. Doch sie trat mit der Ferse nach ihm und traf ihn auf den Mund. Es tat so weh, daß er loslassen mußte. Seine Lippe war aufgeplatzt, und er hatte den Mund voller Blut.
Ganz aus der Nähe rief Onkel Andrew mit bebender Stimme: „Werte Dame – meine liebe junge Frau – ich flehe Sie an – beherrschen Sie sich!" Digory packte noch einmal nach ihrem Fuß, doch auch diesmal mußte er wieder loslassen. Weitere Männer stürzten von der Stange getroffen zu Boden. Beim dritten Versuch klammerte er sich an der Ferse der Hexe fest, als hinge sein Leben davon ab. Er schrie: „Los, Polly!"
Gott sei Dank! Die wütenden, verschreckten Gesichter waren verschwunden, und die aufgebrachten Stimmen verklangen. Nur die von Onkel Andrew war noch zu hören. Gleich neben Digory jammerte er im Dunklen: „Oh! Oh! Bin ich des Wahnsinns? Ist dies das Ende? Ich ertrage es nicht! Das ist ungerecht! Eigentlich wollte ich gar kein Zauberer werden! Das ist ein Mißverständnis! Meine Patin ist schuld! Dagegen muß ich protestieren! Bei meinem gesundheitlichen Zustand! Und bei meiner guten Herkunft!"
Verdammt! dachte Digory. Den wollte ich eigentlich nicht dabeihaben. Ach herrje, so ein Mist! „Bist du da, Polly?" fragte er laut.
„Ja, hier bin ich. Hör auf, mich ständig zu schubsen!"
„Ich schubse dich doch gar nicht!" begann Digory, aber bevor er weiterreden konnte, tauchten sie im grünen Sonnenschein des Waldes auf. Als sie ans Teichufer krabbelten, rief Polly:
„Ach du meine Güte! Das Pferd haben wir auch mitgebracht! Und Mr. Ketterley! Und den Kutscher! Das kann ja heiter werden!"
Als die Hexe sah, daß sie wieder im Wald gelandet war, wurde sie blaß und beugte sich, bis ihr Gesicht die Pferdemähne berührte. Man konnte sehen, daß ihr sterbenselend war. Onkel Andrew zitterte. Doch Goldapfel, das Pferd, schüttelte die Mähne und wieherte. Ihm schien es besser zu gehen. Jetzt wurde er wieder ganz ruhig. Seine Ohren richteten sich auf, und aus seinen Augen verschwand die Wildheit.
„So ist’s recht, alter Junge", sagte der Kutscher und tätschelte Goldapfel am Hals. „So ist’s besser. Sei schön brav."