Das Wichtigste war, die Hexe so schnell wie möglich in ihre eigene Welt zurückzubeordern – oder sie zumindest wegzuschaffen aus dieser Welt. Auf gar keinen Fall durfte sie sich hier im Haus herumtreiben. Seine Mutter durfte nicht mit ihr in Berührung kommen. Und nach Möglichkeit mußte Jadis auch daran gehindert werden, in London ihr Unwesen zu treiben. Digory war nicht dabeigewesen, als sie versucht hatte, Tante Letty zu Staub zerfallen zu lassen, aber er hatte gesehen, wie sie das mit den Toren von Charn zuwege gebracht hatte. Er wußte also von ihrer schrecklichen Macht, und er hatte keine Ahnung, daß sie einen Teil davon beim Betreten unserer Welt eingebüßt hatte. Außerdem wußte er, daß sie vorhatte, unsere Welt zu erobern. Vielleicht war sie gerade eben damit beschäftigt, den Buckingham-Palast oder das Parlament zu Staub zerfallen zu lassen. Und mit großer Wahrscheinlichkeit war auch von zahlreichen Polizisten nur noch ein Häufchen Staub übrig. Digory hatte keine Ahnung, was er dagegen unternehmen sollte. Die Ringe funktionieren ja wie Magnete, dachte er dann. Wenn ich die Hexe berühre und meinen gelben Ring überstreife, dann bringt er uns in den Wald zwischen den Welten. Ob sie dort wohl wieder so einen Schwächeanfall kriegt? Hatte der Ort selbst so einen Einfluß auf sie? Oder war es vielleicht nur der Schock, aus ihrer eigenen Welt fortgezogen zu werden? Aber dieses Risiko muß ich wohl eingehen. Bloß – wie finde ich dieses Weib? Tante Letty läßt mich vermutlich nicht weg, außer ich sage ihr, wo ich hinwill. Zudem habe ich kaum Geld. Und wenn ich ganz London absuchen muß, dann brauche ich sicher eine ganze Menge für Busse und Straßenbahnen. Ich habe sowieso nicht die geringste Ahnung, wo ich überhaupt suchen soll. Ob sie wohl noch mit Onkel Andrew unterwegs ist?
Schließlich und endlich wurde ihm klar, daß er eigentlich nur warten und hoffen konnte, daß Onkel Andrew und die Hexe wieder hierherkamen. Und sobald sie auftauchten, wollte er hinausrennen, Jadis packen und den gelben Ring anstecken, noch bevor sie Gelegenheit hatte, das Haus zu betreten. Das bedeutete, daß er die Haustür bewachen mußte wie die Katze das Mauseloch. Ununterbrochen. Also ging er ins Eßzimmer und rührte sich nicht mehr von der Stelle. Das Erkerfenster, durch das er hinausschaute, war so geformt, daß er die Eingangstreppe und die ganze Straße hinauf und hinunter überblicken konnte. Also konnte keiner ohne sein Wissen die Haustür öffnen. Was Polly wohl gerade treibt? dachte er.
Darüber mußte er lange nachdenken in dieser ersten halben Stunde, die kein Ende nehmen wollte. Ich werde es euch erzählen. Polly war zu spät zum Abendessen gekommen, mit klatschnassen Schuhen und Strümpfen. Und als sie gefragt wurde, wo sie gewesen sei und was zum Teufel sie getrieben habe, da sagte sie, sie sei mit Digory Kirke unterwegs gewesen. Nach weiterem Befragen gab sie zu, die nassen Füße habe sie sich in einem Teich geholt, und der Teich läge in einem Wald. Wo dieser Wald sei, wisse sie nicht. Auf die Frage, ob er in einem der Parks läge, antwortete sie mehr oder weniger wahrheitsgemäß, man könne den Wald als Park bezeichnen, wenn man wolle. Aus all dem schloß Pollys Mutter, ihre Tochter müsse sich in irgendeinem ihr unbekannten Teil Londons in einem Park damit vergnügt haben, in Pfützen zu hüpfen. Also wurde Polly erklärt, sie habe sich schrecklich schlecht benommen, und wenn so etwas noch einmal vorkäme, dann dürfe sie nie mehr mit diesem Kirke spielen. Sie bekam keinen Nachtisch und mußte sich zur Strafe zwei volle Stunden lang ins Bett legen. So etwas passierte ziemlich häufig in jenen Tagen.
Während also Digory aus dem Eßzimmerfenster starrte, lag Polly im Bett. Allen beiden kam es so vor, als stünde die Zeit still. Also ich für meinen Teil, ich wäre lieber an Pollys Stelle gewesen. Sie mußte lediglich warten, bis die zwei Stunden vorüber waren, während Digory alle paar Minuten eine Droschke, einen Lieferwagen oder einen Metzgerjungen um die Ecke biegen hörte und dachte: Da kommt sie! Und nach jedem falschen Alarm schien sich die Zeit wieder endlos lang hinzuziehen, während eine riesige Fliege hoch oben gegen das Fenster schwirrte. Dies war nämlich eines von jenen Häusern, in denen es nachmittags immer schrecklich still und langweilig wird. Zudem roch es ständig nach Hammelfleisch.
Nur ein einziges Mal geschah etwas während dieser langen Warterei. Es war nur eine Kleinigkeit, die sich da zutrug, doch ich muß sie erwähnen, weil sich daraus später andere Dinge ergaben. Eine Frau kam Digorys Mutter besuchen, und sie brachte Trauben mit. Weil ja die Eßzimmertür offenstand, hörte Digory ganz unfreiwillig mit, wie sich seine Tante und die Frau im Flur unterhielten.