Nun müssen wir uns wieder Onkel Andrew zuwenden. Sein armes altes Herz schlug rasend schnell, während er die Treppe hinunterstolperte. Unterwegs tupfte er sich ständig mit dem Taschentuch die Stirn. Als er ein Stockwerk tiefer in seinem Schlafzimmer angelangt war, schloß er die Tür hinter sich zu und stöberte als allererstes in seinem Schrank herum, um eine Flasche und ein Weinglas hervorzuholen, die er immer hier versteckt hielt, damit Tante Letty sie nicht fand. Er füllte das Glas mit so einem ekelhaften Zeug, wie es die Erwachsenen trinken, und stürzte es in einem einzigen Zug hinunter. Dann atmete er tief ein.
Ach, du lieber Gott, sagte er zu sich. Ich bin völlig durcheinander. Ganz außer mir bin ich! Und das in meinem Alter!
Er schenkte sich ein zweites Glas ein, trank es aus, und dann begann er sich umzuziehen. Solche Kleider, wie er sie jetzt anzog, habt ihr noch nie gesehen, aber ich kann mich gerade noch daran erinnern. Er legte sich einen überaus hohen, glänzenden, steifen Kragen um, der so geartet war, daß man ständig das Kinn hochrecken mußte. Dann zog er noch eine weiße Weste an, mit einem Muster darauf, und legte seine goldene Uhrenkette darüber zurecht. Er schlüpfte in sein bestes langschößiges Jackett, das er sonst nur zu Hochzeiten und zu Beerdigungen trug. Als nächstes holte er seinen höchsten Zylinder und bürstete ihn sorgsam. Auf seine Kommode hatte Tante Letty eine Vase mit Blumen gestellt. Davon nahm er sich eine und steckte sie in sein Knopfloch. Aus der linken Kommodenschublade holte er sich ein sauberes, ganz wunderschönes Taschentuch, wie man es heutzutage gar nicht mehr kaufen kann, und spritzte ein paar Tropfen Duftwasser darauf. Dann klemmte er sich das Monokel mit dem dicken schwarzen Band ins Auge und betrachtete sich im Spiegel.
Genau wie die Kinder haben auch die Erwachsenen eine ganz bestimmte Art und Weise, sich völlig albern aufzuführen. Und so erging es in diesem Augenblick Onkel Andrew. Jetzt, wo er die Hexe in einem anderen Zimmer zurückgelassen hatte, vergaß er ganz und gar, welche Angst sie ihm eingejagt hatte. Er mußte nur noch an ihre große Schönheit denken. Er sagte sich immer wieder: Ein verdammt schönes Weib, mein Lieber, ein verdammt schönes Weib! Ein herrliches Geschöpf! Er hatte auch völlig vergessen, daß es ja die Kinder gewesen waren, die dieses herrliche Geschöpf angebracht hatten. Inzwischen war er der Meinung, er selbst habe sie mit seiner Zauberei aus einer fernen Welt herbeigerufen.
Andrew, mein Junge, sagte er sich, während er sich im Spiegel betrachtete, ein ausgesprochen guterhaltener Knabe bist du für dein Alter. Ein vornehmer Herr, ja wirklich.
Der törichte alte Mann bildete sich nämlich ein, die Hexe könne sich in ihn verlieben. Daran war vermutlich das Zeug schuld, das er eben getrunken hatte, und seine guten Kleider. Außerdem war er so eitel wie ein Pfau – deshalb war er auch Zauberer geworden.
Er schloß die Tür auf, ging nach unten, schickte das Dienstmädchen los, damit sie eine Droschke besorgte (in jenen Tagen hatten alle Leute noch eine Menge Dienstboten), und ging in den Salon. Dort fand er, wie erwartet, Tante Letty. Sie kniete vor dem Fenster und reparierte eine Matratze, die vor ihr auf dem Boden lag.
„Ah, Letitia, meine Liebe", sagte Onkel Andrew. „Ich – äh – ich muß weg. Sei so lieb, mein Mädchen, und leih mir fünf Pfund oder so."
„Nein, Andrew, mein Lieber", sagte Tante Letty mit ruhiger und fester Stimme, ohne von ihrer Arbeit aufzusehen. „Ich hab’ dir doch schon hundertmal gesagt, daß ich dir kein Geld borge."
„Sei doch nicht so störrisch, mein liebes Mädchen", meinte Onkel Andrew. „Es ist äußerst wichtig. Du bringst mich in eine sehr unangenehme Lage, wenn du mir kein Geld gibst."
„Andrew", sagte Tante Letty, und dabei schaute sie ihm voll ins Gesicht. „Mich wundert, daß du dich nicht schämst, mich um Geld zu bitten."
Hinter diesen Worten lag eine lange, äußerst langweilige Geschichte, so wie sie sich manchmal unter Erwachsenen zuträgt. Für euch ist daran nur interessant, daß Onkel Andrew dafür verantwortlich war, daß Tante Letty inzwischen um einiges ärmer dastand als dreißig Jahre zuvor. Er hatte sich nämlich verpflichtet gefühlt, sich um ihre Geldangelegenheiten zu kümmern. Gearbeitet hatte er auch nie, und er hatte riesige Rechnungen für Brandy und Zigarren zusammenkommen lassen, die Tante Letty immer wieder bezahlen mußte.
„Mein liebes Mädchen", sagte Onkel Andrew. „Du verstehst nicht. Ich werde heute einige völlig unerwartete Ausgaben tätigen müssen. Ich muß einen Gast bewirten. Na, komm schon, sei doch nicht so störrisch!"
„Und wen mußt du bewirten, Andrew, wenn ich fragen darf?" erkundigte sich Tante Letty.
„Eine – eine hochstehende Persönlichkeit ist eben eingetroffen."