„Oh, nein, nein, nein!" protestierte Onkel Andrew schockiert. „Ganz und gar nicht. Nur ins Gefängnis."
„O je!" rief Digory. „Was hatte sie denn angestellt?"
„Ach, die arme Frau", klagte Onkel Andrew. „Sehr unvernünftige Dinge hat sie angestellt. Alles mögliche. Aber darüber brauchen wir nicht zu reden. Zu mir war sie jedenfalls immer sehr nett."
„Aber was hat denn das alles mit Polly zu tun? Ich wollte, du ..."
„Alles zu seiner Zeit, mein Junge", meinte Onkel Andrew. „Bevor die alte Mrs. Lefay starb, hat man sie freigelassen, und ich war einer der wenigen, den sie noch zu sich ließ, als sie auf dem Sterbebett lag. Normale, unwissende Leute konnte sie nicht mehr ertragen. Mir geht es genauso. Wir beide hatten die gleichen Interessen. Ein paar Tage vor ihrem Tod befahl sie mir, ihr aus dem Geheimfach ihres alten Sekretärs in ihrem Haus eine Schatulle zu bringen. Als ich die Schatulle berührte, spürte ich an dem Prickeln in den Fingern, daß ich ein großes Geheimnis in den Händen hielt. Mrs. Lefay nahm mir das Versprechen ab, die Schatulle sofort nach ihrem Tod ungeöffnet und unter Einhaltung gewisser Zeremonien zu verbrennen. Dieses Versprechen habe ich nicht gehalten."
„Das war aber doch ziemlich gemein von dir", meinte Digory.
„Gemein?" sagte Onkel Andrew. Er sah verwirrt aus. „Oh, ich verstehe. Du meinst, ein kleiner Junge muß seine Versprechen halten. Sehr richtig: So gehört es sich. Davon bin ich überzeugt, und ich bin froh, daß man dich so erzogen hat. Aber du mußt wissen, daß solche Regeln – wie gut sie für kleine Jungen, für Bedienstete, für Frauen und für die Leute ganz allgemein auch sein mögen – keinesfalls für Wissenschaftler, für große Denker und Weise gültig sein können. Nein, Digory. Männer wie ich, die im Besitz geheimer Weisheiten sind, unterliegen nicht den gewöhnlichen Gesetzen. Desgleichen sind uns die gewöhnlichen Freuden verschlossen. Unser Los, mein Junge, ist bedeutungsschwer und voller Einsamkeit."
Dabei seufzte er und machte ein so ernstes, edles und geheimnisvolles Gesicht, daß Digory einen Augenblick lang wirklich fand, da habe sein Onkel etwas Schönes gesagt. Doch dann fiel ihm Onkel Andrews häßlicher Gesichtsausdruck kurz vor Pollys Verschwinden wieder ein. Und im selben Augenblick durchschaute er die großspurigen Worte seines Onkels. Das bedeutet lediglich, daß er der Meinung ist, ihm sei alles erlaubt, egal was er erreichen will, dachte Digory.
„Selbstredend habe ich lange nicht gewagt, die Schatulle zu öffnen, denn ich wußte, daß sie vielleicht höchst gefährliche Objekte enthielt. Meine Patin war nämlich eine sehr außergewöhnliche Frau. Sie war eine der letzten Sterblichen dieses Landes, in deren Adern Feenblut floß. Sie hat mir erzählt, daß es außer ihr damals noch zwei weitere solche Frauen gab – die eine war Herzogin, die andere Putzfrau. Du stehs t also höchstwahrscheinlich vor dem allerletzten Mann, der eine Patin hatte mit Feenblut in den Adern. Was sagst du dazu? Das ist sicher eine schöne Erinnerung für dich, wenn du mal alt bist."
Ich wette, sie war eine böse Fee, dachte Digory. Laut fügte er hinzu: „Aber was ist jetzt mit Polly?"
„Weshalb mußt du denn immer wieder davon anfangen?" zeterte Onkel Andrew. „Als wäre das so wichtig! Meine erste Aufgabe war es natürlich, die Schatulle selbst zu untersuchen. Sie war uralt. Sogar damals wußte ich schon, daß sie nicht griechisch sein konnte, nicht altägyptisch, babylonisch, hethitisch oder chinesisch. Sie war älter als all diese Kulturen. Ah – welch großer Tag, als ich endlich die Wahrheit erfuhr! Die Schatulle kam aus Atlantis, der verschollenen Insel. Das bedeutet, daß sie viele Jahrhunderte älter war als all die Dinge aus der Steinzeit, die man in Europa ausgegraben hat. Sie war auch nicht so ungeschlacht und so grob wie die Sachen von damals. Denn schon zu Anbeginn aller Zeiten war Atlantis eine mächtige Stadt mit Palästen, Tempeln und Gelehrten."
Er schwieg einen Augenblick, als warte er auf einen Kommentar von Digory. Aber der konnte seinen Onkel von Minute zu Minute weniger leiden, also hielt er den Mund.
„Inzwischen lernte ich viele andere Dinge über die Magie ganz im allgemeinen", fuhr Onkel Andrew fort. „Aber das kann ich dir nicht alles erklären. Dafür bist du zu jung. Mit der Zeit konnte ich mir dann recht gut vorstellen, was für Dinge sich in der Schatulle befinden mochten. Durch die verschiedenen Versuche engte ich die Möglichkeiten weitgehend ein. Ich mußte einige – nun ja, einige außerordentlich eigenartige Leute kennenlernen und ein paar sehr unangenehme Erfahrungen machen. Dabei ergraute mein Haar. Man wird kein Zauberer, ohne seinen Preis dafür zu zahlen. Gegen Ende habe ich mir auch noch die Gesundheit ruiniert. Aber ich machte Fortschritte. Und schließlich und endlich erfuhr ich die Wahrheit."
Obwohl nicht die geringste Möglichkeit bestand, daß einer lauschte, beugte er sich vor und flüsterte:
„Die Schatulle aus Atlantis enthielt etwas, was ganz zu Anbeginn unserer Welt aus einer anderen Welt hierhergebracht wurde."