Der Vorwurf nagte an ihm. Anawak hielt sich zugute, Wissenschaft nüchtern zu betreiben. Sein ganzes Leben betrachtete er mit größtmöglicher Nüchternheit. Er trank nicht, ging nicht auf Partys und drängte sich nicht in den Vordergrund, um mit spekulativen Thesen um sich zu werfen. Weder glaubte er an Gott noch akzeptierte er irgendeine Form religiös geprägten Verhaltens. Jede Art von Esoterik war ihm zuwider. Er vermied es, menschliche Wertvorstellungen auf Tiere zu projizieren, wo er nur konnte. Insbesondere Delphine wurden zunehmend Opfer einer romantischen Vorstellung, die nicht minder gefährlich war als Hass und Arroganz: dass sie sich als die besseren Menschen erweisen und die Menschen sich bessern könnten, indem sie versuchten, Walen und Delphinen nachzueifern. Derselbe Chauvinismus, der sich in beispielloser Brutalität ausdrückte, brachte die rückhaltlose Vergötterung hervor, der sich Delphine ausgesetzt sahen. Sie wurden entweder zu Tode gequält oder zu Tode geliebt.
Ausgerechnet seinen eigenen Standpunkt hatte ihm diese hasenzähnige Miss Delaware beibiegen wollen.
Anawak plätscherte weiterhin mit der Hand im Wasser. Nach einer Weile kam der markierte Beluga zu ihm geschwommen. Das Tier war ein vier Meter langes Weibchen. Es streckte den Kopf heraus und ließ sich tätscheln. Dabei stieß es leise Pfeiflaute aus. Anawak fragte sich, ob der Beluga irgendeine menschliche Empfindung teilte und nachvollziehen konnte. Tatsächlich gab es dafür nicht den geringsten Beweis. Insofern hatte Alicia Delaware erst einmal Recht.
Aber ebenso wenig existierte ein Beweis dafür, dass er es
Der Beluga stieß ein Zwitschern aus und zog sich unter die Wasseroberfläche zurück. Ein Schatten war auf Anawak gefallen. Er wandte den Kopf und sah ein paar bestickte Cowboystiefel neben sich.
Oh nein, dachte er. Nicht auch das noch!
»Na, Leon«, sagte der Mann, der zu ihm an den Beckenrand getreten war. »Wen malträtieren wir denn heute?«
Anawak richtete sich auf und musterte den Neuankömmling. Jack Greywolf sah aus, als sei er einem Neowestern entsprungen. Seine hünenhafte, muskelbepackte Gestalt steckte in einem speckigen Lederanzug. Indianerschmuck baumelte über der schrankbreiten Brust. Unter dem federgeschmückten Hut fiel schwarzes, seidig schimmerndes Haar über Schultern und Rücken. Es war das Einzige, was an Jack Greywolf gepflegt wirkte, der ansonsten wie üblich den Anschein erweckte, als habe er sich wochenlang ohne Wasser und Seife durch die Prärie geschlagen. Anawak sah in das braun gebrannte Gesicht mit dem spöttischen Grinsen und lächelte dünn zurück.
»Wer hat dich denn reingelassen, Jack? Der große Manitou?«
Greywolf grinste noch breiter.
»Sondergenehmigung«, sagte er.
»Ach ja? Seit wann?«
»Seit wir die päpstliche Erlaubnis haben, euch auf die Finger zu hauen. Quatsch, Leon, ich bin vorne reingegangen wie alle anderen auch. Sie haben vor fünf Minuten aufgemacht.«
Anawak sah verwirrt auf die Uhr. Greywolf hatte Recht. Er hatte am Belugabecken die Zeit vergessen.
»Ich hoffe, es ist ein zufälliges Zusammentreffen«, sagte er.
Greywolf spitzte die Lippen. »Nicht ganz.«
»Also wolltest du zu mir?« Anawak setzte sich langsam in Bewegung und zwang Greywolf, ihm zu folgen. Die ersten Besucher schlenderten durch die Anlage. »Was kann ich für dich tun?«
»Du weißt genau, was du für mich tun kannst.«
»Dieselbe alte Leier?«
»Schließ dich uns an.«
»Vergiss es.«
»Komm schon, Leon, du bist doch einer von uns. Du kannst kein Interesse daran haben, dass ein Haufen reicher Arschlöcher Wale zu Tode fotografiert.«
»Habe ich auch nicht.«
»Die Leute hören auf dich. Wenn du dich offiziell gegen das
Anawak blieb stehen und sah Greywolf herausfordernd in die Augen.
»Ganz recht. Euch könnte ich nützen. Ich will aber niemandem nützen außer denen, die es nötig haben.«
»Da!« Greywolf zeigte mit ausgestrecktem Arm zum Belugabecken. »Die haben es nötig! Ich könnte kotzen, wenn ich dich hier sehe. In trauter Eintracht mit
»Das ist etwas anderes. Die Indianer haben immer in Einklang mit der Natur gelebt. Sie haben aus den Häuten der Tiere …«
»Erspar’s mir.«
»Es ist aber so.«
»Soll ich dir sagen, was dein Problem ist, Jack? Genau genommen hast du zwei. Erstens, du hängst dir das Mäntelchen des Umweltschutzes um, aber stattdessen führst du einen Stellvertreterkrieg für Indianer, die ihre Angelegenheiten längst schon anders geregelt haben. Dein zweites Problem ist, dass du gar kein richtiger Indianer bist.«