Statuen, denke ich. Was bleibt mir denn anders übrig? Ich sehe sie an, sie ist schön und aufregend, ich spüre sie, und jedesmal, wenn ich mit ihr zusammen bin, ist es, als telefonierten tausend Stimmen durch meine Adern, aber dann plötzlich bricht es ab, als hätten alle eine falsche Verbindung, ich finde mich nicht mehr zurecht, und es entsteht nichts als Verwirrung. Man kann eine Irre nicht begehren. Vielleicht kann man es; ich kann es nicht. Es ist, als wollte man eine automatische Puppe begehren. Oder jemand, der hypnotisiert ist. Das aber ändert nichts daran, daß man ihre Nähe nicht doch spürt.
Die grünen Schatten der Allee öffnen sich, und vor uns liegen die Beete der Tulpen und Narzissen in der vollen Sonne.»Du mußt deinen Hut aufsetzen, Isabelle«, sage ich.»Der Doktor will es so.«
Sie wirft den Hut in die Blüten.»Der Doktor! Was der alles will! Er will mich heiraten, aber sein Herz ist verhungert. Er ist eine Eule, die schwitzt.«
Ich glaube nicht, daß Eulen schwitzen können. Aber das Bild überzeugt trotzdem. Isabelle tritt wie eine Tänzerin zwischen die Tulpen und kauert sich nieder.»Hörst du die hier?«
»Natürlich«, sage ich erleichtert.»Jeder kann sie hören. Es sind Glocken. In Fis-Dur.«
»Was ist Fis-Dur?«
»Eine Tonart. Die süßeste von allen.«
Sie wirft ihren weiten Rock über die Blüten.»Läuten sie jetzt in mir?«
Ich nicke und sehe auf ihren schmalen Nacken. Alles läutet in dir, denke ich. Sie bricht eine Tulpe ab und betrachtet die offene Blüte und den fleischigen Stengel, aus dem der Saft quillt.
»Das hier ist nicht süß.«
»Gut – dann sind es Glocken in C-Dur.«
»Muß es Dur sein?«
»Es kann auch Moll sein.«
»Kann es nicht beides zugleich sein?«
»In der Musik nicht«, sage ich, in die Enge getrieben.»Es gibt da Prinzipien. Es kann nur eins oder das andere sein. Oder eins nach dem anderen.«
»Eins nach dem andern!«Isabelle sieht mich mit leichter Verachtung an.»Immer kommst du mit diesen Ausreden, Rolf. Warum?«
»Ich weiß es auch nicht. Ich wollte, es wäre anders.«
Sie richtet sich plötzlich auf und schleudert die Tulpe, die sie abgebrochen hat, von sich. Mit einem Sprung ist sie aus dem Beet heraus und schüttelt heftig ihr Kleid aus. Dann zieht sie es hoch und betrachtet ihre Beine. Ihr Gesicht ist von Ekel verzerrt.
»Was ist passiert?«frage ich erschreckt.
Sie zeigt auf das Beet.»Schlangen -«
Ich blicke auf die Blumen.»Da sind keine Schlangen, Isabelle.«
»Doch! Die da!«Sie deutet auf die Tulpen.»Siehst du nicht, was sie wollen? Ich habe es gespürt.«
»Sie wollen nichts. Es sind Blumen«, sage ich verständnislos.
»Sie haben mich angerührt!«Sie zittert vor Ekel und starrt immer noch auf die Tulpen.
Ich nehme sie bei den Armen und drehe sie so, daß sie das Beet nicht mehr sieht.»Jetzt hast du dich umgedreht«, sage ich.»Jetzt sind sie nicht mehr da.«
Sie atmet heftig.»Laß es nicht zu! Zertritt sie, Rudolf.«
»Sie sind nicht mehr da. Du hast dich umgedreht, und nun sind sie fort. Wie das Gras nachts und die Dinge.«
Sie lehnte sich an mich. Ich bin plötzlich nicht mehr Rolf für sie. Sie legt ihr Gesicht an meine Schulter. Sie braucht mir nichts zu erklären. Ich bin Rudolf und muß es wissen.»Bist du sicher?«fragt sie, und ich fühle ihr Herz neben meiner Hand schlagen.
»Ganz sicher. Sie sind weg. Wie Dienstboten am Sonntag.«
»Laß es nicht zu, Rudolf -«
»Ich lasse es nicht zu«, sage ich und weiß nicht recht, was sie meint. Doch das ist auch nicht notwendig. Sie beruhigt sich bereits.
Wir gehen langsam zurück. Sie wird fast ohne Übergang müde. Eine Schwester marschiert auf flachen Absätzen heran.»Sie müssen essen kommen, Mademoiselle.«
»Essen«, sagt Isabelle.»Wozu muß man immer essen, Rudolf?«
»Damit man nicht stirbt.«
»Du lügst schon wieder«, sagt sie müde, wie zu einem hoffnungslosen Kinde.
»Diesmal nicht. Diesmal ist es wahr.«
»So? Essen Steine auch?«
»Leben Steine denn?«
»Aber natürlich. Am stärksten von allem. So stark, daß sie ewig sind. Weißt du nicht, was ein Kristall ist?«
»Nur aus der Physikstunde. Das ist sicher falsch.«
»Reine Ekstase«, flüstert Isabelle.»Nicht, wie das da -«Sie macht eine Bewegung nach rückwärts zu den Beeten.
Die Wärterin nimmt ihren Arm.»Wo haben Sie Ihren Hut, Mademoiselle?«fragt sie nach ein paar Schritten und sieht sich um.»Warten Sie, ich hole ihn.«
Sie geht, um den Hut aus den Blumen zu fischen. Hinter ihr kommt Isabelle hastig, mit aufgelöstem Gesicht zu mir zurück.
»Verlaß mich nicht, Rudolf!«flüstert sie.
»Ich verlasse dich nicht.«
»Und geh nicht weg! Ich muß jetzt fort. Sie holen mich! Aber geh nicht weg!«
»Ich gehe nicht weg, Isabelle.«
Die Wärterin hat den Hut gerettet und marschiert nun auf ihren breiten Sohlen heran wie das Schicksal. Isabelle steht und sieht mich an. Es ist, als wäre es ein Abschied für immer. Es ist jedesmal mit ihr so, als wäre es ein Abschied für immer. Wer weiß, wie sie wiederkommt und ob sie mich dann überhaupt noch erkennt?
»Setzen Sie den Hut auf, Mademoiselle«, sagt die Wärterin.