Ich erhalte nach der Messe von den Schwestern der Anstalt ein Frühstück aus Eiern, Aufschnitt, Bouillon, Brot und Honig. Das gehört zu meinem Vertrag. Ich komme damit gut über das Mittagessen hinweg; denn sonntags gelten Eduards Eßkarten nicht. Außerdem erhalte ich tausend Mark, eine Summe, für die ich gerade mit der Straßenbahn hin- und zurückfahren kann, wenn ich will. Ich habe nie eine Erhöhung verlangt. Warum, weiß ich nicht; bei dem Schuster Karl Brill und den Nachhilfestunden für den Sohn des Buchhändlers Bauer kämpfe ich darum wie ein wilder Ziegenbock.
Nach dem Frühstück gehe ich in den Park der Anstalt. Es ist ein schönes, weitläufiges Gelände mit Bäumen, Blumen und Bänken, umgeben von einer hohen Mauer, und man könnte glauben, in einem Sanatorium zu sein, wenn man nicht die vergitterten Fenster sähe.
Ich liebe den Park, weil er still ist und weil ich hier mit niemand über Krieg, Politik und Inflation zu reden brauche. Ich kann ruhig sitzen und so altmodische Dinge tun wie auf den Wind lauschen, den Vögeln zuhören und das Licht beobachten, wie es durch das helle Grün der Baumkronen filtert.
Die Kranken, die ausgehen dürfen, wandern vorüber. Die meisten sind still, andere reden mit sich selbst, ein paar diskutieren lebhaft mit Besuchern und Wärtern, und viele hocken schweigend und allein, ohne sich zu rühren, mit gebeugten Köpfen, wie versteinert in der Sonne – bis sie wieder in ihre Zellen zurückgeschafft werden.
Es hat einige Zeit gedauert, ehe ich mich an den Anblick gewöhnt habe, und selbst heute kommt es ab und zu noch vor, daß ich die Irren anstarre wie zu Anfang: mit einem Gemisch aus Neugier, Grauen und etwas namenlosem dritten, das mich an den Augenblick erinnert, als ich meinen ersten Toten sah. Ich war damals zwölf Jahre alt, der Tote hieß Georg Hellmann, eine Woche vorher hatte ich mit ihm noch gespielt, und nun lag er da, zwischen Blumen und Kränzen, etwas unsagbar Fremdes aus gelbem Wachs, das in einer entsetzlichen Weise nichts mehr mit uns zu tun hatte, das fort war für ein unausdenkbares Immer und doch noch da, in einer stummen, seltsam kühlen Drohung. Später, im Kriege, habe ich dann unzählige Tote gesehen und kaum mehr dabei empfunden, als wäre ich in einem Schlachthause – aber diesen ersten habe ich nie vergessen, so wie man alles Erste nicht vergißt. Er war der Tod. Und es ist derselbe Tod, der mich manchmal aus den erloschenen Augen der Irren anblickt, ein lebendiger Tod, unbegreiflicher fast noch und rätselhafter als der andere, stille. Nur bei Isabelle ist das anders.
Ich sehe sie den Weg vom Pavillon für Frauen herankommen. Ein gelbes Kleid schwingt wie eine Glocke aus Shantungseide um ihre Beine, und in der Hand hält sie einen flachen, breiten Strohhut.
Ich stehe auf und gehe ihr entgegen. Ihr Gesicht ist schmal, und man sieht darin eigentlich nur die Augen und den Mund. Die Augen sind grau und grün und sehr durchsichtig, und der Mund ist rot wie der einer Lungenkranken oder als hätte sie ihn stark geschminkt. Die Augen können aber auch plötzlich flach, schieferfarben und klein werden und der Mund schmal und verbittert wie der einer alten Jungfer, die nie geheiratet worden ist. Wenn sie so ist, ist sie Jennie, eine mißtrauische, unangenehme Person, der man nichts recht machen kann – wenn sie anders ist, ist sie Isabelle. Beides sind Illusionen, denn in Wirklichkeit heißt sie Geneviève Terhoven und leidet an einer Krankheit, die den häßlichen und etwas gespenstischen Namen Schizophrenie führt – Teilung des Bewußtseins, Spaltung der Persönlichkeit, und das ist auch der Grund, warum sie sich für Isabelle oder Jennie hält – jemand andern, als sie wirklich ist. Sie ist eine der jüngsten Kranken der Anstalt. Ihre Mutter soll im Elsaß leben und ziemlich reich sein, sich aber wenig um sie kümmern – ich habe sie jedenfalls hier noch nicht gesehen, seit ich Geneviève kenne, und das ist schon sechs Wochen her.
Sie ist heute Isabelle, das sehe ich sofort. Sie lebt dann in einer Traumwelt, die nichts mit der Wirklichkeit zu tun hat, und ist leicht und schwerelos, und ich würde mich nicht wundern, wenn die Zitronenfalter, die überall herumspielen, sich ihr auf die Schultern setzten.
»Da bist du!«sagt sie strahlend.»Wo warst du all die Zeit?«
Wenn sie Isabelle ist, sagt sie du zu mir. Das ist keine besondere Auszeichnung; sie sagt dann du zu aller Welt.
»Wo warst du?«fragt sie noch einmal.
Ich mache eine Bewegung in die Richtung des Tores.
»Irgendwo – da draußen -«
Sie sieht mich einen Augenblick forschend an.»Draußen? Warum? Suchst du da etwas?«
»Ich glaube schon – wenn ich nur wüßte, was!«
Sie lacht.»Gib es auf, Rolf. Man findet nie etwas.«