Ein Vogel fängt plötzlich an zu singen. Es ist eine Drossel. Sie sitzt auf der Spitze des Kreuzdenkmals, das Heinrich Kroll verschachert hat, und hat eine Stimme, die viel zu groß ist für den kleinen schwarzen Ball mit dem gelben Schnabel. Sie jubelt und klagt und bewegt mir das Herz. Ich denke einen Augenblick daran, daß ihr Lied, das für mich Leben und Zukunft und Träume und alles Ungewisse, Fremde und Neue bedeutet, für die Würmer, die sich aus der feuchten Gartenerde um das Kreuzdenkmal jetzt heraufarbeiten, ohne Zweifel nichts weiter ist, als das grauenhafte Signal des Todes durch Zerhacken mit fürchterlichen Schnabelhieben – trotzdem kann ich mir nicht helfen, es schwemmt mich weg, es lockert alles auf, ich stehe auf einmal hilflos und verloren da und wundere mich, daß ich nicht zerreiße oder wie ein Ballon in den Abendhimmel fliege, bis ich mich schließlich fasse und durch den Garten und den Nachtgeruch zurückstolpere, die Treppen hinauf, zum Klavier, und auf die Tasten haue und sie streichle und versuche, auch so etwas wie eine Drossel zu sein, und herauszuschmettern und zu beben, was ich fühle -: aber es wird dann doch zum Schluß nichts anderes daraus als ein Haufen von Arpeggien und Fetzen von ein paar Schmachtschlagern und Volksliedern und etwas aus dem Rosenkavalier und aus Tristan, ein Gemisch und ein Durcheinander, bis jemand von der Straße heraufschreit:»Mensch, lerne doch erst einmal richtig spielen!«
Ich breche ab und schleiche zum Fenster. Im Dunkel verschwindet eine dunkle Gestalt; sie ist bereits zu weit weg, um ihr etwas an den Kopf zu werfen, und wozu auch? Sie hat ja recht. Ich kann nicht richtig spielen, weder auf dem Klavier noch auf dem Leben, nie, nie habe ich es gekonnt, immer war ich zu hastig, immer zu ungeduldig, immer kam etwas dazwischen, immer brach es ab – aber wer kann schon richtig spielen, und wenn er es kann, was nützt es ihm dann? Ist das große Dunkel darum weniger aussichtslos, brennt die Verzweiflung über die ewige Unzulänglichkeit darum weniger schmerzhaft, und ist das Leben dadurch jemals zu erklären und zu fassen und zu reiten wie ein zahmes Pferd, oder ist es immer wie ein mächtiges Segel im Sturm, das uns trägt und uns, wenn wir es greifen wollen, ins Wasser fegt? Da ist manchmal ein Loch vor mir, das scheint bis in den Mittelpunkt der Erde zu reichen. Was füllt es aus? Die Sehnsucht? Die Verzweiflung? Ein Glück? Und welches? Die Müdigkeit? Die Resignation? Der Tod? Wozu lebe ich? Ja, wozu lebe ich?
III
Es ist Sonntag früh. Die Glocken läuten von allen Türmen, und die Irrlichter des Abends sind zerstoben. Der Dollar steht immer noch auf sechsunddreißigtausend, die Zeit hält den Atem an, die Wärme hat den Kristall des Himmels noch nicht geschmolzen, und alles scheint klar und unendlich rein, es ist die eine Stunde am Morgen, wo man glaubt, daß selbst dem Mörder vergeben wird und daß gut und böse belanglose Worte sind.
Ich ziehe mich langsam an. Die kühle, sonnige Luft weht durch das offene Fenster. Schwalben blitzen stählern unter dem Torbogen durch. Mein Zimmer hat, wie das Büro darunter, zwei Fenster, eines zum Hof und eines zur Straße. Ich lehne einen Augenblick im Hoffenster und sehe in den Garten. Plötzlich tönt ein erstickter Schrei durch die Stille, dem ein Gurgeln und Stöhnen folgt. Es ist Heinrich Kroll, der im andern Flügel schläft. Er hat wieder einmal einen seiner Alpträume. 1918 ist er verschüttet worden, und heute, fünf Jahre später, träumt er immer noch ab und zu davon.
Ich koche auf meinem Spirituskocher Kaffee, in den ich einen Schluck Kirsch gieße. Ich habe das in Frankreich gelernt, und Schnaps habe ich trotz der Inflation immer noch. Mein Gehalt reicht zwar nie aus für einen neuen Anzug – ich kann dafür einfach das Geld nicht zusammensparen, es wird zu rasch wertlos -, aber für kleine Sachen genügt es, und darunter natürlich, als Trost, ab und zu für eine Flasche Schnaps.
Ich esse mein Brot mit Margarine und Pflaumenmarmelade. Die Marmelade ist gut, sie stammt aus den Vorräten von Mutter Kroll. Die Margarine ist ranzig, aber das macht nichts; im Kriege haben wir alle schlechter gegessen. Dann mustere ich meine Garderobe. Ich besitze zwei zu Zivilanzügen umgearbeitete Militäruniformen. Der eine ist blau, der andere schwarz gefärbt – viel mehr war mit dem graugrünen Stoff nicht zu machen. Außerdem habe ich noch einen Anzug aus der Zeit, bevor ich Soldat wurde. Er ist ausgewachsen, aber es ist ein richtiger Zivilanzug, kein umgearbeiteter oder gewendeter, und deshalb ziehe ich ihn heute an. Er paßt zu der Krawatte, die ich gestern nachmittag gekauft habe und die ich heute tragen will, damit Isabelle sie sieht.