Isabelle zieht ihre Hand zurück.»Du hältst ein Glas mit Wasser nachts hinaus aus dem Fenster – so.«Sie streckt den Arm aus.»Dann ist er darin. Man kann es sehen, das Glas wird hell.«»Du meinst, er spiegelt sich darin.«
»Er spiegelt sich nicht. Er ist darin.«Sie sieht mich an.»Spiegeln – was meinst du mit spiegeln?«
»Spiegeln ist das Bild in einem Spiegel. Man kann sich in vielem spiegeln, das glatt ist. Auch in Wasser. Aber man ist trotzdem nicht darin.«
»Das glatt ist!«Isabelle lächelt höflich und ungläubig.»Wirklich? So etwas!«
»Aber natürlich. Wenn du vor dem Spiegel stehst, siehst du dich doch auch.«
Sie zieht einen Schuh aus und betrachtet ihren Fuß. Er ist schmal und lang und nicht mit Druckstellen verunstaltet.»Ja, vielleicht«, sagt sie, immer noch höflich und uninteressiert.
»Nicht vielleicht. Bestimmt. Aber das, was du siehst, bist nicht du. Es ist nur ein Spiegelbild. Nicht du.«
»Nein, nicht ich. Aber wo bin ich, wenn es da ist?«»Du stehst vor dem Spiegel. Sonst könnte er dich ja nicht spiegeln.«
Isabelle zieht ihren Schuh wieder an und blickt auf.»Bist du sicher, Rudolf?«
»Ganz sicher.«
»Ich nicht. Was machen Spiegel, wenn sie allein sind?«
»Sie spiegeln das, was da ist.«
»Und wenn nichts da ist?«
»Das gibt es nicht. Irgend etwas ist immer da.«
»Und nachts? Bei Neumond – wenn es ganz dunkel ist, was spiegeln sie dann?«
»Die Dunkelheit«, sage ich, nicht mehr so völlig überzeugt, denn wie kann sich tiefste Dunkelheit spiegeln? Zum Spiegeln gehört immer noch etwas Licht.
»Dann sind sie also tot, wenn es ganz finster ist?«
»Sie schlafen vielleicht – und wenn das Licht wiederkommt, erwachen sie.«
Isabelle nickt nachdenklich und zieht ihr Kleid dicht um die Beine.»Und wenn sie träumen?«fragt sie plötzlich.»Was träumen sie?«
»Wer?«
»Die Spiegel.«
»Ich glaube, sie träumen immer«, sage ich.»Das ist es, was sie den ganzen Tag tun. Sie träumen uns. Sie träumen uns nach der anderen Seite herum. Was bei uns rechts ist, ist bei ihnen links, und was links ist, ist rechts.«
Isabelle dreht sich mir zu.»Dann sind sie die andere Seite von uns?«
Ich überlege. Wer weiß wirklich, was ein Spiegel ist?
»Da siehst du es«, sagt sie.»Und vorhin behauptetest du, es wäre nichts in ihnen. Dabei haben sie unsere andere Seite in sich.«
»Nur so lange, wie wir vor ihnen stehen. Wenn wir weggehen, nicht mehr.«
»Woher weißt du das?«
»Man sieht es. Wenn man fortgeht und zurücksieht, ist unser Bild schon nicht mehr da.«
»Und wenn sie es nur verstecken?«
»Wie können sie es verstecken? Sie spiegeln doch alles! Deshalb sind sie ja Spiegel. Ein Spiegel kann nichts verstecken.«
Eine Falte steht zwischen Isabelles Brauen.»Wo bleibt es dann?«
»Was?«
»Das Bild! Die andere Seite! Springt es in uns zurück?«
»Das weiß ich nicht.«
»Es kann doch nicht verlorengehen!«
»Es geht nicht verloren.«
»Wo bleibt es denn?«fragt sie drängender.»Im Spiegel?«
»Nein. Im Spiegel ist es nicht mehr.«
»Es wird schon noch da sein! Woher weißt du das so genau? Du siehst es doch nicht.«
»Andere Leute sehen auch, daß es nicht mehr da ist. Sie sehen nur ihr eigenes Bild, wenn sie vor dem Spiegel stehen. Nichts anders.«
»Sie verdecken es. Aber wo bleibt meins? Es muß da sein!«
»Es ist ja da«, sage ich und bereue, daß ich das ganze Gespräch angefangen habe.»Wenn du wieder vor den Spiegel trittst, ist es auch wieder da.«
Isabelle ist plötzlich sehr aufgeregt. Sie kniet auf der Bank und beugt sich vor. Schwarz und schmal steht ihre Silhouette vor den Narzissen, deren Gelb im schwülen Abend aussieht, als wären sie aus Schwefel.»Es ist also darin! Und vorhin sagtest du, es sei nicht da.«
Sie umklammert meine Hand und zittert. Ich weiß nicht, was ich antworten soll, um sie zu beruhigen. Mit physikalischen Gesetzen kann ich ihr nicht kommen; sie würde sie verachtungsvoll ablehnen. Und im Augenblick bin ich der Gesetze auch nicht so ganz sicher. Spiegel scheinen auf einmal wirklich ein Geheimnis zu haben.
»Wo ist es, Rudolf?«flüstert sie und drängt sich gegen mich.»Sag mir, wo es ist! Ist überall von mir ein Stück zurückgeblieben? In all den Spiegeln, die ich gesehen habe? Ich habe viele gesehen, unzählige! Bin ich überall darin verstreut? Hat jeder etwas von mir genommen? Einen dünnen Abdruck, eine dünne Scheibe von mir? Bin ich von Spiegeln zerschnitten worden wie ein Stück Holz von Hobeln? Was ist dann noch von mir da?«
Ich halte ihre Schultern.»Alles ist von dir da«, sage ich.»Im Gegenteil, Spiegel geben noch etwas hinzu. Sie machen es sichtbar und geben es dir zurück – ein Stück Raum, ein beglänztes Stück Selbst.«
»Selbst?«Sie umklammert immer noch meine Hand.»Und wenn es anders ist? Wenn es überall begraben liegt in tausend und tausend Spiegeln? Wie kann man es zurückholen? Ach, man kann es nie zurückholen! Es ist verloren! Verloren! Es ist abgehobelt wie eine Statue, die kein Gesicht mehr hat. Wo ist mein Gesicht? Wo ist mein erstes Gesicht? Das vor allen Spiegeln? Das, bevor sie begannen, mich zu stehlen?«
»Niemand hat dich gestohlen«, sage ich ratlos.»Spiegel stehlen nicht. Sie spiegeln nur.«