Ich stehe noch eine Weile da und denke darüber nach, daß die Natur von der Amöbe her Millionen von Jahren gebraucht hat, um über Fisch, Frosch, Wirbeltier und Affen den alten Knopf hervorzubringen, ein Geschöpf, vollgestopft mit physikalischen und chemischen Wunderwerken, einem Blutkreislauf von höchster Genialität, einer Herzmaschine, die man nur anbeten kann, einer Leber und zwei Nieren, gegen die die IG Farbenfabriken lächerliche Pfuscherwerkstätten sind – und das alles, dieses über Millionen von Jahren sorgfältig vervollkommnete Wunderwerk, etatsmäßiger Feldwebel Knopf genannt, nur dazu, um für eine kurze Zeit auf Erden armselige Bauernjungens zu schinden und sich dann mit einer mäßigen Staatspension dem Trunke zu ergeben! Gott macht sich wirklich manchmal viel Mühe um nichts!
Kopfschüttelnd drehe ich das Licht in meinem Zimmer an und starre in den Spiegel. Da ist ein anderes Wunderwerk der Natur, das auch nicht viel mit sich anzufangen weiß. Ich drehe das Licht ab und ziehe mich im Dunkeln aus.
XXIII
In der Allee kommt mir eine junge Dame entgegen. Es ist Sonntag morgen, und ich habe sie bereits in der Kirche gesehen. Sie trägt ein hellgraues, gut sitzendes Jackenkleid, einen kleinen Filzhut, graue Wildlederschuhe, heißt Geneviève Terhoven und ist mir sonderbar fremd.
Sie war mit ihrer Mutter in der Kirche. Ich habe sie gesehen, und ich habe Bodendiek gesehen und auch Wernicke, dem der Erfolg nur so von den Mundwinkeln trieft. Ich habe den Garten umkreist und auf nichts mehr gehofft, und nun kommt Isabelle plötzlich allein durch die Allee, die schon fast kahl ist. Ich bleibe stehen. Sie kommt, schmal und leicht und elegant, und mit ihr kommt auf einmal alle Sehnsucht wieder, der Himmel und mein eigenes Blut. Ich kann nicht sprechen. Ich weiß von Wernicke, daß sie gesund ist, daß die Schatten verweht sind, und ich spüre es selbst; sie ist auf einmal da, anders als früher, aber ganz da, nichts von Krankheit steht mehr zwischen uns, voll springt die Liebe aus meinen Händen und Augen, und ein Schwindel steigt wie ein lautloser Wirbelsturm die Adern empor ins Gehirn. Sie sieht mich an.
»Isabelle«, sage ich.
Sie sieht mich wieder an, eine schmale Falte zwischen den Brauen.»Ja?«fragt sie.
Ich fasse es nicht sofort. Ich glaube, ich müsse sie erinnern.
»Isabelle«, wiederhole ich.»Erkennst du mich nicht? Ich bin doch Rudolf.
»Rudolf?«wiederholt sie.»Rudolf – wie, bitte?«
Ich starre sie an.»Wir haben oft miteinander gesprochen«, sage ich dann.
Sie nickt.»Ja, ich war lange hier. Ich habe vieles davon vergessen, entschuldigen Sie. Sind Sie auch schon lange hier?«
»Ich? Ich war doch nie hier oben! Ich habe hier doch nur Orgel gespielt. Und dann -«
»Orgel, ja, so«, erwidert Geneviève Terhoven höflich.»In der Kapelle. Ja, ich erinnere mich. Entschuldigen Sie, daß es mir im Augenblick entfallen war. Sie haben sehr schön gespielt. Vielen Dank.«
Ich stehe da wie ein Idiot. Ich verstehe nicht, warum ich nicht gehe. Geneviève versteht es offenbar auch nicht.
»Verzeihen Sie«, sagt sie.»Ich habe noch viel zu tun; ich reise bald.«
»Sie reisen bald?«
»Ja«, erwidert sie erstaunt.
»Und Sie erinnern sich an nichts? Nicht an die Namen, die in der Nacht abfallen und an die Blumen, die Stimmen haben?«
Isabelle hebt verständnislos die Schultern.»Gedichte«, erklärt sie dann lächelnd.»Ich habe sie immer geliebt. Aber es gibt so viele! Man kann sich nicht an alle erinnern.«
Ich gebe auf. Es ist so, wie ich es geahnt habe! Sie ist gesund geworden, und ich bin aus ihren Händen geglitten wie aus den Händen einer schlafenden Bäuerin eine Zeitung. Sie erinnert sich an nichts mehr. Es ist, als wäre sie aus einer Narkose erwacht. Die Zeit hier oben ist aus ihrem Gedächtnis entschwunden. Sie hat alles vergessen. Sie ist Geneviève Terhoven und weiß nicht mehr, wer Isabelle war. Sie lügt nicht, das sehe ich. Ich habe sie verloren, nicht so, wie ich fürchtete, weil sie einem anderen Kreise als ich entstammt und in ihn zurückgeht, sondern schlimmer, gründlicher und unabänderlicher. Sie ist gestorben. Sie lebt und atmet noch und ist schön, aber in dem Augenblick, wo die Fremde der Krankheit weggenommen wurde, ist sie gestorben, ertrunken für immer. Isabelle, deren Herz flog und blühte, ist ertrunken in Geneviève Terhoven, einem wohlerzogenen Mädchen besserer Kreise, das sicher einmal wohlhabend heiraten und sogar eine gute Mutter sein wird.
»Ich muß fort«, sagt sie.»Vielen Dank noch einmal für das Orgelspiel.«
»Nun?«fragt mich Wernicke.»Was sagen Sie dazu?«
»Wozu?«
»Stellen Sie sich nicht so dumm. Zu Fräulein Terhoven. Sie müssen doch zugeben, daß sie in den drei Wochen, die Sie sie nicht gesehen haben, ein ganz anderer Mensch geworden ist. Voller Erfolg!«
»So was nennen Sie Erfolg?«
»Was denn sonst? Sie kehrt ins Leben zurück, alles ist in Ordnung, die Zeit vorher ist versunken wie ein böser Traum, sie ist wieder ein Mensch geworden, was wollen Sie mehr? Sie haben sie ja gesehen. Nun?«
»Ja«, sage ich.»Nun?«