Er drehte sich um. Gunhild stand auf der Mitte des Steges. Sie hatte ihren Speer verloren, der irgendwo unten in die Tiefe trudelte. Sie hielt die Augen geschlossen, die Arme von sich gestreckt, und schwankte wie im Wind, doch das Einzige, was sich bewegte, war das tosende Wasser weit, weit unter ihnen.
»Gunni!«
Gunhild wusste, dass Siggi sie rief, aber sie konnte sich nicht bewegen.
Sie hatte nie solche Angst gespürt. Sie war immer forsch und frech gewesen, hatte nie ein Risiko gescheut. Obwohl sie ihrem kleinen Bruder immer zur Seite gestanden hatte, hatte sie doch nie geahnt, wie es wirklich war, Angst zu haben. Und jetzt
»Gunhild, komm!«
Sie bewegte die Lippen. »Ich ... kann ... nicht.«
Siggi tat einen Schritt auf den Steg hinaus, dann, ohne zu denken, einen zweiten. Dann war er bei ihr.
»Komm, gib mir die Hand.«
Rückwärts, Schritt für Schritt, zog er sie mit sich, und sie folgte ihm. Yngwe, der ihr gefolgt war, hatte sie bei den Schultern gefasst. So gingen sie, bis sie das sichere Felsband erreicht hatten. Es schien eine Ewigkeit zu dauern, aber dann war es geschafft.
»Ich weiß nicht, was in mich gefahren ist«, sagte Gunhild, nachdem sie sich auf einen Stein niedergelassen hatte. Die Lios-alfar umstanden sie und sahen sie mit einem Blick an, in dem sich Besorgnis mit einem Ausdruck mischte, den sie nicht recht zu deuten wusste.
»Also, wenn ihr meiner Schwester jetzt irgendwas am Zeug flicken wollt -«, begann Siggi.
»Das will keiner«, unterbrach ihn Laurion. »Aber es zeigt, dass der Wille mächtiger ist als die Natur, nicht wahr. Wie bei Siegfried.«
Gunhild lächelte matt. »Du hast uns immer noch nicht das Ende der Geschichte erzählt«, sagte sie.
Auch Laurion lächelte. »Da gibt es nicht mehr viel zu erzählen. Odin verbannte Brunhild zur Strafe auf einen hohen Felsen und versetzte sie in Schlaf. Doch weil er sie liebte, versprach er ihr, dass nur ein Held sie würde erlösen können. Darum umgab er den Felsen mit einer Flammenwand - es heißt, es sei Loki selbst gewesen in seiner Feuergestalt.
Und dann kam der Held, mit dem er nie gerechnet hatte. Siegfried, der Drachentöter, der Herr des Ringes. Odin versuchte, sich ihm in den Weg zu stellen, doch mit dem neu geschmiedeten Schwert seines Vaters zerschlug Siegfried Odins Speer und nahm ihm seine Macht. Dann drang er durch die Waberlohe und befreite Brunhild.
Das ist eigentlich alles. Wir müssen weiter.«
Vor ihnen taten sich in der Felswand drei Öffnungen auf.
»Wir trennen uns hier«, beschloss Laurion. »Wir nehmen den mittleren Weg, Yngwe, die Kinder, und ich. Modi und Magni den linken, Wali und Widar den rechten. So können sie uns vor Gefahren warnen oder notfalls gegen die Spähtrupps der Feinde schützen. Gehen wir!«
Als sie sich, Laurion voraus, Siggi und Gunhild in der Mitte und Yngwe als Nachhut, in die Tiefe des Ganges vorwagten, meinte Siggi zu seiner Schwester:
»Ich habe das noch nicht ganz verstanden. Wieso hat Siegfried den Speer zerschlagen können? Ich meine, das ging doch gar nicht.«
»Ich glaube«, meinte Gunhild nachdenklich, »das hat etwas damit zu tun, wer seine Eltern waren.«
»Du meinst, weil sie Bruder -«
»- und Schwester waren, ja. Der Einäugige - Odin - hat gesagt, dass keiner seinen Pakt brechen könnte, der unter dem Gesetz der Natur geboren war. Er glaubte sich unfehlbar. Doch sein eigener Plan hatte ihn in die Falle geführt. Denn Siegfried stand außerhalb der Regeln.
So wie wir«, fügte sie hinzu, ehe die Dunkelheit sie verschluckte.
6
Der Speer des Schicksals
Hagen erlebte alles nur noch wie im Traum. Die kleinwüchsigen Frauen führten ihn durch die Halle des Königs. Die Umstehenden bildeten trotz des Tumults, der nach Alberichs Rede ausgebrochen war, eine Gasse, und ehrfurchtsvoll neigten die Swart-alfar ihre Köpfe, um ihm zu huldigen. Hagen begriff nur langsam, dass er gleichsam adoptiert worden war, zum Prinz der Schwarzalben erhoben von Alberich, dem König selbst.
Der Lärm und das Durcheinander drangen nur gedämpft an Hagens Ohren. Die Schwarzalbinnen führten ihn behutsam aus der Halle durch einige Gänge in einen kleinen Raum, der eine Mischung aus Rüstkammer und Nähstube bildete.
Willig ließ sich Hagen seine Kleidung abnehmen; kaum bemerkte er, dass ihn die Frauen neue Kleider anpassten. In ihm brodelte es. Nun hatte er die Gelegenheit, es Siegfried und seiner Schwester heimzuzahlen! Und es schien ihm, als würden ihm die Gedanken zugetragen, dass Alberich mächtiger war als die bleiche Brut, zu der Siggi bestimmt schon zählte.