»Brunhild trug ihn bei sich, als sie zu Siegfried auf den Scheiterhaufen sprang, um mit ihm in den Tod zu gehen. Und seitdem hielten wir ihn für verloren. Doch vielleicht ist er mit ihrer Asche in den Rhein versunken und gelangte von dort zurück in Mimirs Quell, in den alle Wasser der Welt am Ende münden.
Damit war auch des Ende der Asen gekommen. Denn ohne Odins Zauber verging ihre Macht. Walhall zerfiel, der Glanz der Götter verblasste. Und sie, die einst die Herren der Welt gewesen waren, wurden zu Naturgeistern und Spukgestalten, die vergehen, wenn der Glaube der Menschen an sie vergeht.«
»Die Götterdämmerung«, sagte eine andere Stimme. »Sie kam nicht mit Donnerhall und Schlachtgetöse, sondern mit einem Winseln. Und dann kam Herr Odin eines Tages angekrochen, als Bittsteller, mit den Resten seines einst stolzen Volkes. ›Lichtalben‹ nannten sie sich; mehr war von den stolzen Asen nicht übrig geblieben. Ein Plätzchen wollten sie erbetteln in unserer düsteren Unterwelt. Doch als ich ihnen sagte: ›Geht! Ihr habt uns genug Leid gebracht‹, da drangen sie mit Gewalt in unser Reich ein, und seitdem herrscht bitterer Zwist zwischen den Letzten der Lios-alfar und den Erben der Nibelungen.«
Ohne dass es Hagen bemerkt hatte, war Alberich hinter ihn getreten. Alberichs Miene war undurchschaubar; ein alter Groll schien in ihm zu toben, aber da war noch etwas, das Hagen nicht zu deuten wusste. Doch auch Hoffnung flackerte in diesem Blick, und Hagen war sicher, dass ihm diese Hoffnung galt - ihm ganz allein.
»Lass uns in die Halle gehen ... Vater«, sagte Hagen.
Der König der Swart-alfar nickte nur, wandte seinen Blick von Hagen und ging an der Seite des Jungen den Gang in Richtung Königshalle hinunter.
Ohne weiteren Aufenthalt betraten sie die königliche Halle und gerieten mitten ins Getümmel.
Hagen war fast ein wenig enttäuscht, hatte er doch gehofft, bei seiner Rückkehr in die Halle hofiert zu werden, aber Alberichs Volk war zu beschäftigt. Eilig rannten die Schwarzalben hin und her. Es ging zu wie in einem Ameisenhaufen, doch jeder der Eilenden hatte seine Aufgabe und sein Ziel. Die große Schlacht gegen ihre Erzfeinde, die Lios-alfar, stand bevor, und jeder Einzelne hatte seinen Teil beizutragen.
»Bringt Speise und Trank für den Prinzen und mich!«, befahl Alberich und setzte hinzu. »In meine Gemächer.«
Dann ging er um den Drachenthron herum, und Hagen erkannte, dass der Thron wie eine Brücke aus dem Felsen herausgemeißelt war. Und dahinter hatten die Swart-alfar in langer, mühevoller Arbeit die Gemächer ihres Königs aus dem harten, grauen Fels getrieben. Die Wände wirkten wie poliert, und waren mit Darstellungen von heldenhaften Kämpfen und vielen anderen Motiven aus Sage und Legende verziert, alle mit Stein in Stein ausgeführt, in feinsten Mosaiken. Die Farben waren kräftig und klar.
Sie betraten eine Art Arbeitszimmer des Königs. Eine Karte des Höhlensystems mit Alberichs Königshalle als Zentrum war hier in die Wand eingelegt worden, in feinstem Detail gearbeitet und mit goldenen Runen beschriftet.
An der gegenüber liegenden Wand fand sich das Motiv des Drachen wieder, der auch den Thron des Königs in der großen Halle bildete, nur mit einer Ergänzung: Zu seinen Füßen gleißte es hell von einem gewaltigen Schatz, auf dem der Drache zu brüten schien.
Sie nahmen an einem Tisch Platz. Mîm blieb an der Tür stehen. Auch wenn hier im Zentrum des Schwarzalbenreiches keine Gefahr drohte, gab seine ruhige, stets kampfbereite Gegenwart Hagen ein zusätzliches Gefühl der Sicherheit. Sein breites Gesicht war so ernst wie immer, und mittlerweile verstand Hagen auch ein wenig, warum dem so war.
Schon bald wurden ihnen Speisen und Getränke aufgetragen. Zwei silberne Becher und ein Krug mit einem goldfarbenen Getränk und ein Berg Fleisch auf einer Platte aus gebranntem Steingut wurden hereingebracht.
Der Duft des gebratenen Fleisches machte Hagen bewusst, wie hungrig und auch durstig er war. Er folgte dem Vorbild Alberichs, der mit den Händen zugriff.
Das Getränk, das ihm von Mîm in den großen silbernen Becher gegossen wurde, war eigenartig. Es schmeckte nach Honig, aber kaum hatte Hagen den Becher geleert, fühlte er sich geradezu beflügelt, aber andererseits so, als wäre sein Geist auf Flaum gebettet. Er fühlte sich leicht wie eine Feder.
»Was ist das?«, fragte er.
»Met«, sagte Alberich. »Honigwein.«
»Alkohol?«, fragte Hagen.
»Viel«, sagte Mîm, ausnahmsweise einmal lächelnd. »Met macht fröhlich, verleiht übermenschliche Kräfte, gibt dem Skalden Inspiration, lässt den Zecher bleiern schlafen, und am anderen Morgen hat man ein Bergwerk im Schädel.«
Hagen schmeckte das Getränk ausgezeichnet. Er wollte mehr, aber Alberich legte ihm die Hand auf den Arm.
»Nein, Hagen«, sagte der König. »Es ist nicht gut, vor der Schlacht viel Alkohol zu trinken. Er steigt zu Kopf.«
Hagen machte ein enttäuschtes Gesicht.