Sie blickten auf. Inmitten des Regenbogenlichts stand die Verborgene Königin über ihnen. Sie wirkte seltsam durchscheinend, und die Kinder erkannten, dass sie nicht in Wirklichkeit hier war, und doch zauberte das gebrochene Licht Reflexe auf ihr weites, fließendes Gewand.
»Wir alle werden sterben«, sagte sie. »Wir konnten unseren Hass nicht überwinden. Wir haben gedacht, das Böse sei gebannt, glaubten, wir hätten Loki, den Vergifter Asgards, in den tiefsten Feuern Muspelheims in Fesseln gelegt. Doch wir hatten nicht mit seinem Schatten gerechnet, dem dunklen Ich, das in jedem von uns wohnt.«
»War es Loki, der mir sagte, wie böse Siggi sei?«, fragte Hagen, nicht ohne Hoffnung in der Stimme.
»O ja«, entgegnete die Erscheinung. »Loki hat auch deine Seele vergiftet, hat dich glauben machen wollen, dass du Siggi hasst, und er hätte es fast geschafft; aber es ist ihm letztlich nicht gelungen. Ich habe eingegriffen und den Bann von euch genommen, und als du die freie Wahl hattest, hast du dich für Freundschaft statt für Tod entschieden.«
»Wie habt Ihr eingegriffen, Herrin?«, fragte Gunhild verwundert. »Wir haben nichts davon gemerkt.«
»Es war das Halsband, das du trägst, Gunhild«, erklärte die Königin, »das mir die Möglichkeit dazu gab. In ihm ruht die Zeit aller Welten. Sagte ich dir nicht, es sei stärker als die mächtigste Waffe? In dem Moment, als Hagen den Speer hob, trat ich ein in jene heilige Zeit, in der eine Sekunde wie tausend Ewigkeiten ist, und forderte Loki auf, sich zu zeigen. Fast wäre auch ich seinen Verlockungen erlegen, aber dies eine Mal habe ich ihm widerstanden, Gunhild. Ich wünschte, ich hätte sein Spiel früher durchschaut, dann wäre Ragnarök in weite Ferne gerückt, und Alberichs und mein Volk würden in Frieden nebeneinander leben. Aber es ist zu spät.«
Tiefes Bedauern sprach aus ihren Worten. Und die Kinder begriffen, dass keine Macht dieser Welt jetzt noch aufhalten konnte, was in diesen Augenblicken geschah.
Ragnarök - der Weltuntergang, die Götterdämmerung hatte nun die Anderswelt erfasst und würde diese vernichten.
»Jedem von euch hat in der Anderswelt ein Gott zur Seite gestanden, aber verändert habt ihr euch selbst.
Siggi«, wandte sich Freya an den blonden Jungen, der immer noch mit Mjölnir in der Hand schützend vor seiner Schwester stand, »achte auf dich, denn in dir steckt mehr, als du zu glauben bereit bist.«
Siggi neigte den Kopf vor der Göttin, wenn er auch nicht wusste, was sie mit ihren Worten meinte.
»Hagen, sei nicht traurig«, fuhr Freya fort, »du hast etwas ganz Großes vollbracht, du hast dich selbst besiegt.«
Auch Hagen neigte seinen Kopf und war stolz auf das Lob, aber nicht so wie früher; denn er ließ sich seinen Stolz nicht mehr zu Kopf steigen, sondern wusste, jeder Tag würde Prüfungen für ihn bringen, und er konnte sie nicht alle bestehen und würde Fehler machen. Aber er würde damit leben können.
»Und Gunhild«, sagte Freya leise zu dem Mädchen, »vergiss nicht: Du bist wie ich. Ich werde immer ein Teil von dir sein, auch wenn der Zauber vergeht. Denn ich bin die Herrin der Liebe.«
Die Gestalt der Göttin flackerte wie eine Kerzenflamme, die im Wind zu erlöschen drohte.
»Wie kommen wir wieder in unsere Welt?«, rief Siggi rasch, bevor sie entschwinden konnte.
»Folgt Gunhild, ich werde durch sie wirken«, antwortete die Göttin. »Ich werde nicht all das Schreckliche, das hier geschieht, von euch fern halten können. Aber erinnert euch auch an das Schöne, das ihr erlebt habt, und an eure Freunde Laurion und Mîm. Denn aller Hass wird am Ende vergehen, und nur die Liebe bleibt...«
Ihre Worte hallten noch einen Moment nach, dann war die Erscheinung verblasst und die Stimme verklungen.
Einen Augenblick standen die drei noch stumm da und starrten auf die Stelle, wo sie gewesen war. Zu viel war in den letzten Stunden auf sie eingestürmt. Sie waren Zeuge des Todes dreier Götter geworden - oder wie immer man auch jene Wesen bezeichnen sollte, die zugleich Verkörperungen elementarer Gewalten waren und doch auch Personen mit eigenen Hoffnungen, Wünschen und Zielen, die den höchsten Triumph ebenso kannten wie die abgrundtiefe Verzweiflung.
Siggi dachte an Thor, den Donnerer, der kämpfend untergegangen war, und an dessen unbändige Kraft und dessen heldenhaften Mut. Auch wenn der Geist des Gottes ihn nicht mehr beseelte, war mit der Bewunderung auch etwas von diesem Mut auf ihn selbst übergegangen.
Gunhild dachte an Odin und wie sie in die Abgründe seines Geistes geschaut hatte, als er sein verwunschenes Auge öffnete. Wieder schauderte sie bei den Gedanken, wie es sein mochte, mit einem solchen Bewusstsein zu leben, und irgendwie empfand sie etwas wie Mitleid mit ihm, seinem unbändigen Verlangen, den Sturm aus dem Nichts noch eine Weile zurückzuhalten.