Das Mädchen war eingeschlafen. Die sanfte, sehr leise Stimme der fremden Frau hatte es sacht hinübergeschaukelt ins dunkle Reich des Schlafes, und als es aufschrack und – halb erschrokken, halb erleichtert, sich nicht allein wiederzufinden, wie es im allerersten Moment befürchtet hatte – in ihr Gesicht blickte, spürte es, daß es sehr lange geschlafen haben mußte. Im Osten begann der Himmel bereits grau zu werden; die Nacht war zu Ende. Die Geschichte der Frau noch nicht, das spürte es ganz genau, denn obwohl es nur eine ausgedachte Geschichte war, die die dunkelhaarige Fremde sich zweifellos im gleichen Moment einfallen ließ, in dem sie sie dem Mädchen erzählte, hatte sie einen Anfang gehabt und eine Fortsetzung, und sie mußte ein Ende haben.
Daß sie nicht wahr war, störte das Mädchen nicht sehr; ganz im Gegenteil – wäre sie wahr gewesen, hätten sie all die sonderbaren und fremdartigen Dinge sicherlich erschreckt. So aber erweckten sie nur sein Interesse, und erfüllten es allenfalls mit einem schwachen, eher mohligen Schaudern. Und sie halb ihm zu vergessen. Die Stadt brannte noch immer, obwohl es hinter den geschwärzten Mauern eigentlich lange nichts mehr geben konnte, was noch zu verbrennen war. Aber dann und wann trug der Wind noch immer den rußigen Geruch des Todes heran, und der Himmel über der Stadt lohte rot.
Hastig wandte das Mädchen den Blick. Es wollte nicht erinnert werden. Es wußte, daß der Schmerz kommen würde, so wie er Talianna eingeholt hatte, das Mädchen aus der Geschichte der Fremden. Aber es fühlte sich noch nicht stark genug, ihn zu ertragen.
Sie setzte sich auf, zog fröstelnd die Knie an den Körper und rieb mit den Händen über ihre nackten Oberarme. Der Morgen war kalt.
Nach einer Weile stand die fremde Frau auf, löste ihren Mantel von den Schultern und legte ihn dem Mädchen über. Das Kind bedankte sich mit einem scheuen Lächeln und kuschelte sich eng in das wollene Kleidungsstück.
»Hat sie Karan gefunden?« fragte es.
»Tally?« Die Fremde nickte. »Oh ja. Ihn und andere.«
»Und hat er getan, was sie von ihm wollte.«
Die dunkelhaarige Frau lächelte. »Sicher. Wenn auch auf andere Weise, als Tally sich vorgestellt hatte. Aber die Geschichte ist noch lang. Und du bist müde. Schlaf ein wenig. Ich werde auf dich aufpassen.«
Das Mädchen schüttelte fast erschrocken den Kopf. Es wollte nicht schlafen. Wenn es schlief, würden die Träume kommen. Es haßte Angst. »Rede weiter«, sagte es. »Bitte. Was geschah mit Hrhon und Weller?«