4. Kapitel
Karan
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Sie war so müde, daß es ihr schwerfiel, dem Treiben in der Schänke die gebührende Aufmerksamkeit zu zollen. Weller hatte sie gewarnt, hier hinein zu gehen, selbst in Begleitung, und erst recht, allein hier zu bleiben, aber sie hatte auf die eine Warnung so wenig gehört wie auf die andere. Sie hatte zwei Tage und eine Nacht nicht geschlafen, hatte eine mittlere Schlacht miterlebt, um ihr Leben kämpfen und stundenlang vor einem Feuer davonlaufen müssen – mehr, als selbst jemand mit ihrer nicht unbeträchtlichen Kondition so einfach wegstecken konnte, ohne dafür früher oder später zahlen zu müssen. Sie wollte einfach ausruhen, und ein Ort wie dieser schien ihr noch immer geeigneter als die Straße; denn zumindest in diesem Punkt hatte sie Weller uneingeschränkt recht geben müssen: der Norden Schelfheims war eine Gegend, in der selbst sie es sich gründlich überlegte, nach Dunkelwerden allein auf die Straße hinauszutreten.
Nicht, daß dieses Gasthaus sehr viel vertrauenerweckender gewesen wäre. Der Raum war zu klein, zu niedrig und zu schlecht belüftet, um mehr als ein stickiges Loch sein zu können, und das Dutzend zerlumpter Gestalten, das an der Theke herumlümmelte und sich mit billigem Fusel der einzigen Sorte vollaufen ließ, die der Wirt feilbot, hätte geradewegs aus den Bleiminen von Curan entsprungen sein können. Aber hier hatte sie ihre Umgebung wenigstens im Auge, und sie hatte einen Platz in der hintersten Ecke der Kaschemme gewählt, so daß sie vor einem Angriff aus dem Hinterhalt sicher war. Andererseits glaubte sie nicht, daß die Gefahr ganz so groß war, wie Weller behauptete. Sie war oft genug auch in Gegenden wie dieser gewesen, um zu wissen, nach welchen Spielregeln das Leben hier ablief. Selbst in einer Gesellschaft aus Verbrechern lief nicht jeder zweite herum und schnitt seinem Nachbarn aus purem Übermut die Kehle durch. Es gab ein paar sehr einfache Regeln, am Leben zu bleiben und überflüssigen Ärger zu vermeiden, und Tally bildete sich ein, sie zu beherrschen.
Eine von diesen Regeln lautete, sich in nichts einzumischen, was einen nichts anging – was praktisch
Der Wirt kam, trug den Becher mit schal gewordenem Bier fort, der vor ihr auf dem Tisch stand, und knallte ihr einen neuen Tonkrug hin. Eine schmierige, fette Hand mit zu kurzen Fingern streckte sich aus; Tally griff in ihren Beutel, nahm eine kleine Kupfermünze heraus und ließ sie hineinfallen. Der Wirt antwortete mit einem Grunzen und entfernte sich.
Tally blickte ihm finster nach. Sie verabscheute Neppmethoden wie diese im allgemeinen, und sie ließ normalerweise keine Gelegenheit aus, dies sehr deutlich klarzumachen (im Zweifelsfalle mit einem Fausthieb oder einem Tritt), aber sie war einfach zu müde, sich wegen einer solchen Kleinigkeit zu ereifern – und sie hatte Wellers Warnung keineswegs vergessen. Sie war eine Frau, und sie war allein, und beides war nicht unbedingt dazu angetan, ihre Position sicherer zu machen. Das Geräusch der Tür ließ sie aufsehen. Ein halbes Dutzend ausnahmslos hochgewachsener, abenteuerlich gekleideter Burschen betrat das Lokal, gefolgt von einer etwas kleineren, dunkelhaarigen Gestalt in einem bodenlangen schwarzen Cape. Tally hob gelangweilt ihr Bier, stockte plötzlich mitten in der Bewegung und sah noch einmal und etwas genauer hin.