Leider, sagte Rose, sei das von russischen Kutschern nicht zu verlangen, so hätten sie fahren gelernt, anders nicht.
Sie hielten erst vor dem Magnetberg. Mitten in der Ebene von Wissokaja Gora erhob sich eine Erzmasse aus weißgelbem Ton, alle Kompasse verloren die Orientierung, und Humboldt machte sich an den Aufstieg. Wohl der Erkältung wegen fiel es ihm schwerer als früher; einige Male mußte er sich von Ehrenberg stützen lassen, und als er sich nach einem Stein bücken wollte, tat ihm der Rücken so weh, daß er Rose bat, das Sammeln zu übernehmen. Das war aber überflüssig, da der Vorstand des lokalen Eisenwerks schon auf dem Gipfel wartete, um ein Kästchen mit sorgfältig geordneten Erzproben zu überreichen. Humboldt bedankte sich heiser. Der Wind zerrte wütend an seinem Wollschal.
Also, sagte Rose, wieder hinunter?
Im Eisenwerk wurde ein kleiner Junge herbeigeführt. Der heiße Pavel, sagte der Bergwerksvorstand, sei vierzehn und blöd. Aber er habe diesen Stein gefunden. Der Kleine öffnete eine schmutzige Hand.
Eindeutig ein Diamant, sagte Humboldt nach eingehender Untersuchung.
Ungeheurer Jubel brach aus, die Minenaufseher schlugen einander auf die Schultern, Arbeiter tanzten, der Männerchor begann von neuem zu singen, mehrere der Kumpel gaben Pavel freundschaftliche, doch sehr feste Ohrfeigen.
Nicht übel, sagte Wolodin. Nur einige Wochen im Land und schon den ersten Diamanten Rußlands gefunden, da spüre man die Hand des Meisters.
Er habe ihn nicht gefunden, sagte Humboldt.
Wenn er ihm etwas raten dürfe, sagte Rose, es sei besser, diesen Satz nicht zu wiederholen.
Es gebe eine oberflächliche Wahrheit und eine tiefere, sagte Ehrenberg, gerade als Deutscher wisse man das.
Sei es denn zuviel verlangt, fragte Rose, den Leuten für einen Moment zu geben, was sie wollten?
Wenige Tage später holte sie ein völlig erschöpfter Reiter mit einem Dankschreiben des Zaren ein.
Humboldts Erkältung wurde nicht besser. Sie fuhren durch die mückenschwirrende Taiga. Der Himmel war sehr hoch, und die Sonne schien nicht mehr unterzugehen, so daß die Nacht zu einer vagen Erinnerung wurde. Die Ferne mit ihren grasigen Mooren, niedrigen Bäumen und den Schlangenlinien der Bäche zerfloß in weißem Dunst. Manchmal, wenn Humboldt erschrocken aus sekundenlangem Schlaf auffuhr und feststellte, daß der Zeiger des Chronometers schon wieder eine Stunde übersprungen hatte, schien ihm der Himmel mit seinen Faserwölkchen und der unablässig brennenden Sonne in Segmente aufgeteilt und von Rissen durchzogen, die sich, bewegte er den Kopf, mit seinem Blickfeld verschoben.
Lauernd fragte Ehrenberg, ob noch eine Decke gefällig sei.
Er habe noch nie zwei Decken gebraucht, sagte Humboldt. Doch Ehrenberg hielt ihm ungerührt die Decke hin, und dann siegte die Schwäche über den Ärger, und er griff zu, wickelte sich fest in die weiche Baumwolle und fragte, vielleicht bloß, um sich gegen den Schlaf zu stemmen, wie weit es noch bis Tobolsk sei.
Sehr weit, sagte Rose.
Und auch nicht, sagte Ehrenberg. Das Land sei so unsinnig groß, daß Entfernungen keine Bedeutung hätten. Distanzen lösten sich in abstrakte Mathematik auf.
Etwas an dieser Antwort kam Humboldt impertinent vor, doch er war zu müde, um darüber nachzudenken. Ihm fiel ein, daß Gauß von einer absoluten Länge gesprochen hatte, einer Geraden, der nichts mehr hinzugefügt werden konnte und die sich, wiewohl endlich, so weit dehnte, daß jede mögliche Distanz nur ein Teil von ihr war. Für ein paar Sekunden, im Zwischenreich von Wachen und Schlaf, hatte er das Gefühl, daß diese Gerade etwas mit seinem Leben zu tun hatte und alles hell und deutlich wäre, wenn er nur begriffe, was. Die Antwort schien nahe. Er wollte an Gauß schreiben. Doch dann schlief er ein.
Gauß hatte errechnet, daß Humboldt noch drei bis fünf Jahre zu leben hatte. Seit kurzem beschäftigte er sich wieder mit Sterbestatistik. Es war ein Auftrag der staatlichen Assekuranzkasse, gut bezahlt, zudem mathematisch nicht uninteressant. Gerade hatte er die Lebenserwartungen alter Bekannter überschlagen. Wenn er eine Stunde lang die an der Sternwarte vorbeigehenden Menschen zählte, konnte er abschätzen, wie viele davon in einem Jahr, in drei Jahren, in zehn Jahren unter der Erde sein würden. Das, sagte er, sollten die Astrologen nachmachen!
Man dürfe, antwortete Weber, die Horoskope nicht unterschätzen, eine vollkommene Wissenschaft werde auch sie einzusetzen verstehen, so wie man jetzt beginne, die galvanische Kraft zu nutzen. Außerdem ändere die Glockenkurve der Wahrscheinlichkeit nichts an der simplen Wahrheit, daß keiner ahne, wann er sterben werde; ein Würfel falle immer zum erstenmal.