Ihre Sammlungen wuchsen beständig. Überall warteten Forscher und übergaben ihnen sorgfältig beschriftete Stein-und Pflanzenproben. Ein bärtiger Universitätsprofessor mit Glatze und runden Brillengläsern schenkte ihnen eine winzige Glasflasche mit kosmischem Äther, den er durch eine komplizierte Filteranlage von der Luft getrennt hatte. Das Fläschchen war so schwer, daß man es nur mit zwei Händen heben konnte, und sein Inhalt strahlte solche Dunkelheit aus, daß noch in einiger Entfernung die Dinge undeutlich wurden. Man müsse die Substanz vorsichtig lagern, sagte der Professor und putzte seine beschlagenen Gläser, sie sei leicht entflammbar. Was ihn betreffe, so habe er die Versuchsanordnung abgebaut, außer dem hier sei nichts mehr übrig, und er empfehle, es tief in der Erde zu vergraben. Auch betrachte man es besser nicht lange, das sei nicht gut fürs Gemüt.
Immer öfter hatten die Holzhütten runde Pagodendächer, die Augen der Menschen schienen schmaler, in der Leere des Landes waren immer mehr Jurten kirgisischer Nomaden aufgeschlagen. Vor der Grenze trat ein salutierendes Kosakenregiment an, Fahnen flatterten, eine Trompete schmetterte. Einige Minuten fuhren sie durch bemoostes Niemandsland, dann begrüßte sie ein chinesischer Offizier. Humboldt hielr eine Ansprache übe/ Abend und Morgen, Orient, Okzident und die Menschheit als Ganzes. Dann sprach der Chinese. Dolmetscher gab es nicht.
Er habe einen Bruder, sagte Humboldt leise zu Ehrenberg, der sogar diese Sprache studiert habe.
Der Chinese hob lächelnd beide Hände. Humboldt schenkte ihm einen Ballen blauen Tuchs, der Chinese gab ihm eine Pergamentrolle. Humboldt öffnete sie, sah, daß sie beschrieben war, und starrte beunruhigt auf die Schriftzeichen.
Nun müßten sie aber zurück, flüsterte Ehrenberg, das hier strapaziere schon sehr das Wohlwollen des Zaren, ein Grenzübertritt komme überhaupt nicht in Frage.
Auf dem Rückweg kamen sie an einem kalmückischen Tempel vorbei. Hier gingen düstere Kulte vonstatten, sagte Wolodin, das müsse man sich einmal ansehen.
Ein Tempeldiener in gelber Robe und mit geschorenem Kopf führte sie ins Innere. Goldstatuen lächelten, es roch nach verbranntem Kraut. Ein kleiner, rotgelb angezogener Lama erwartete sie. Der Lama sprach chinesisch mit dem Tempeldiener, dieser in gebrochenem Russisch mit Wolodin.
Er habe schon gehört, daß ein Mann unterwegs sei, der alles wisse.
Humboldt protestierte: Er wisse nichts, aber er habe sein Leben damit hingebracht, diesen Umstand zu ändern, er habe Kenntnisse erworben und die Welt bereist, das sei alles.
Wolodin und der Tempeldiener übersetzten, der Lama lächelte. Er klopfte mit der Faust an seinen dicken Bauch. Immer das hier!
Wie bitte, fragte Humboldt.
Hier drinnen stark und groß werden, sagte der Lama.
Genau das habe er immer erstrebt, sagte Humboldt.
Der Lama berührte mit seiner weichen Kinderhand Humboldts Brust. Aber da sei nichts. Wer das nicht verstehe, werde rastlos, laufe durch die Welt wie der Sturm, erschüttere alles und wirke nicht.
Er glaube nicht ans Nichts, sagte Humboldt mit belegter Stimme. Er glaube an Fülle und Reichtum der Natur.
Die Natur sei unerlöst, sagte der Lama, sie atme Verzweiflung.
Ratlos fragte Humboldt, ob Wolodin richtig übersetzt habe.
Zum Teufel, antwortete Wolodin, woher solle er das wissen, das alles ergebe keinen Sinn.
Der Lama fragte, ob Humboldt seinen Hund wecken könne.
Er bedauere, sagte Humboldt, aber er verstehe diese Metapher nicht.
Wolodin beriet sich mit dem Tempeldiener. Keine Metapher, sagte er dann, des Lamas Lieblingshündchen sei vorgestern gestorben, jemand sei irrtümlich daraufgetreten. Der Lama habe den Körper aufgehoben und bitte Humboldt, den er für sehr kenntnisreich halte, das Tier zurückzurufen.
Das könne er nicht, sagte Humboldt.
Wolodin und der Tempeldiener übersetzten, der Lama verbeugte sich. Er wisse, daß ein Eingeweihter das nur selten dürfe, aber er erbitte diese Gunst, der Hund liege ihm sehr am Herzen.
Er könne das wirklich nicht, wiederholte Humboldt, dem vom Kräuterdampf allmählich schwindlig wurde. Er könne nichts und niemanden aus dem Tod wecken!
Er verstehe, sagte der Lama, was der kluge Mann ihm damit sagen wolle.
Er wolle gar nichts sagen, rief Humboldt, er könne es einfach nicht!
Er verstehe, sagte der Lama, ob er dem klugen Mann wenigstens eine Tasse Tee anbieten dürfe?
Wolodin riet zur Vorsicht, man werfe in dieser Gegend ranzige Butter in den Tee. Wenn man nicht daran gewöhnt sei, werde einem furchtbar schlecht.
Humboldt lehnte dankend ab, er vertrage keinen Tee.
Er verstehe, sagte der Lama, auch diese Botschaft.
Es gebe keine Botschaft, rief Humboldt.
Er verstehe, sagte der Lama.
Unschlüssig verbeugte sich Humboldt, der Lama tat es ihm gleich, und sie machten sich wieder auf den Weg.