Der Baum
Als Eugen die Küste verschwinden sah, zündete er sich die erste Pfeife seines Lebens an. Gut schmeckte sie nicht, aber wahrscheinlich konnte man sich daran gewöhnen. Er trug jetzt einen Bart und kam sich zum erstenmal nicht wie ein Kind vor.
Der Morgen nach seiner Verhaftung schien lange zurückzuliegen. Der schnurrbärtige Gendarmeriekommandant war in seine Zelle gestürmt und hatte ihm zwei Ohrfeigen von solcher Wucht verpaßt, daß sie ihm den Kiefer ausgerenkt hatten. Wenig später hatte das Verhör begonnen: Ein merkwürdig höflicher Mann im Gehrock fragte ihn traurig, warum er das getan habe. Mit dem Widerstand bei der Inhaftierung habe er sich in Teufels Küche gebracht, sei denn das nötig gewesen?
Aber er habe sich nicht gewehrt, rief Eugen.
Der Geheimpolizist fragte, ob er Preußens Polizei der
Lüge bezichtigen wolle.
Eugen bat ihn, Kontakt mit seinem Vater aufzuneh
men.
Seufzend fragte der Geheimpolizist, ob er wirklich
glaube, das habe man nicht längst getan. Er beugte sich
vor, faßte Eugen vorsichtig an beiden Ohren und schlug
seinen Kopf mit aller Kraft auf die Tischplatte.
Als Eugen zu sich kam, lag er in einem sauber bezogenen Bett am Rand eines Krankenhausschlafsaals mit vergitterten Fenstern. Dies sei keiner der schlimmen Orte,
sagte eine ältliche Schwester, hierher würden nur Adelige
verlegt oder Leute, für die sich jemand verwendet habe, er
solle froh sein.
Gegen Abend tauchte von neuem der höfliche Geheimpolizist auf. Alles sei geregelt, Eugen werde das Land
verlassen. Man rege eine Reise nach Übersee an. Er wisse nicht recht, sagte Eugen, das sei schon sehr
weit.
Eigentlich sei das kein Vorschlag, antwortete der Geheimpolizist, die Idee stehe nicht zur Diskussion, und
wüßte Eugen, welchem Schicksal er entgehe, er würde
weinen vor Glück.
Am Abend kam sein Vater. Er setzte sich auf den Bettrand und fragte, wie er das seiner Mutter habe antun
können.
Er habe das alles nicht vorgehabt, sagte Eugen weinend,
er habe von nichts gewußt, er wolle nicht weg.
Geschehen sei geschehen, sagte sein Vater, klopfte ihm
geistesabwesend auf die Schulter und schob etwas Geld
unter sein Kopfkissen. Der Baron habe alles geregelt, er
sei ein feiner Mann, wenn auch etwas verrückt. Eugen fragte, wovon er leben solle.
Sein Vater zuckte die Schultern. Ob er schon einmal
über die Berechnung von Feldern nachgedacht habe? Feldern, wieso?
Kugelfunktionen, sagte sein Vater nachdenklich, so
müsse es zu machen sein. Er fuhr zusammen und sah
Eugen an, als erwache er aus einem Traum. Wie auch
immer, er werde es schon schaffen! Dann zog er Eugen so fest an sich, daß seine Schulter gegen dessen Kiefer prallte; für ein paar Sekunden war Eugen betäubt vor Schmerz. Als er wieder klar denken konnte, war sein Vater gegangen. Erst jetzt begriff er, daß er ihn nie mehr
sehen würde.
Drei Tage später erreichte er den Hafen. Beim Warten
auf die Fähre nach England kam er mit drei Handelsreisenden ins Gespräch, gutmütigen Leuten, nicht sehr
intelligent, die für neugegründete Bankhäuser arbeiteten
und ihn zu einem Kartenspiel aufforderten. Er gewann.
Zunächst wenig, dann immer mehr, schließlich so viel,
daß sie ihn für einen Betrüger hielten und er schnell gehen mußte. Dabei hatte er nichts anderes getan, als sich
die Karten nach Giordano Brunos Methode zu merken,
die sein Vater ihm vor Jahren beigebracht hatte: Man
mußte jede Karte im Kopf in eine Menschen-oder Tierfigur verwandeln, je alberner desto besser, so daß sie sich
zu einer Geschichte zusammenfügten. Wenn man es geübt hatte, konnte man ein Spiel mit zweiunddreißig Blatt
im Gedächtnis behalten. Damals war ihm das nie gelungen, und sein Vater hatte schimpfend aufgegeben. Jetzt
aber ging es ohne Schwierigkeiten.
In einer anderen Gastwirtschaft trank er zuviel. Die
Luft um ihn schien zu flimmern, und er spürte sanfte
Müdigkeit in allen Gliedern. Der Wunsch nach Schlaf
war so stark, daß er fast die schöne junge Frau übersehen hätte, die plötzlich neben ihm saß. So jung, das erkannte er dann aus der Nähe, war sie zwar gar nicht, und
auch nicht ganz so hübsch, doch als er log und sagte, er
habe kein Geld, fragte sie ihn beleidigt, ob er sie für so
eine halte, und schon um ihr zu zeigen, daß er es nicht tat, nahm er sie auf sein Herbergszimmer mit. Auf dem Weg dorthin dachte er darüber nach, ob es sich gehörte, ihr zu sagen, daß sie seine erste Frau war und er kaum wußte, was er zu tun hatte. Doch dann war es sehr einfach, und als er im Halbdunkel ihre Hände auf seinen Wangen spürte, war er so glücklich und müde, daß er fast eingeschlafen wäre, hätte sie es nicht verstanden, ihn wachzuhalten, und es war gar nicht mehr wichtig, wie jung sie war oder wie sie aussah, und als ihm am nächsten Morgen klar wurde, daß sie seinen ganzen Gewinn mitgenommen hatte, brachte er es nicht fertig, sich zu
ärgern. Wie leicht alles wurde, wenn man aufbrach. Dann war er nach England gekommen: fremde Menschen, eine Sprache aus seltsam klingenden Lauten,
fremde Ortsschilder und merkwürdiges Essen. Angeblich
lebten Millionen in London, aber er konnte es sich nicht