vorstellen; eine Million Menschen, das ergab keinen Sinn.
In seinem Gasthof erreichte ihn ein Brief Humboldts, der
ihm empfahl, eines der neuartigen Dampfschiffe zu nehmen. Er schloß Ratschläge über den Umgang mit wilden
Menschen an: Man müsse freundlich und interessiert
wirken und dürfe weder seine Überlegenheit leugnen,
noch es unterlassen, Belehrungen zu äußern, das Wohlgefallen an der Unwissenheit anderer sei eine Form der
Herablassung. Eugen mußte lachen. Als ob er sich unter
Wilden ansiedeln würde! Von seinem Vater kein Wort.
Nachts konnte er vor Heimweh und Einsamkeit nicht
schlafen. Er nahm das erste Dampfschiff, auf dem eine
Passage frei war.
Es gab nur wenige Reisende an Bord, Dampfer fuhren
erst seit kutzem über den Ozean, und den meisten war es noch zu neu. Der Himmel war niedrig und bewölkt, Eugens Pfeife ging aus, er wollte sie wieder anzünden, aber der Wind war zu stark. Der Kapitän, der erfahren hatte, daß Eugen etwas von Mathematik verstand, lud ihn in die
Steuerkabine ein.
Ob er sich auch für Navigation interessiere?
Nicht im geringsten, antwortete Eugen.
Früher, sagte der Kapitän, wäre so starke Bewölkung
ein Problem gewesen, aber heute navigiere man ohne
Sterne, man habe jetzt genaue Uhren. Mit einem Harrison-Chronometer komme jeder Laie um die Erdkugel. Also sei, fragte Eugen, die Zeit det großen Navigatoren
vorüber? Kein Blight mehr, kein Humboldt?
Der Kapitän überlegte. Eugen wunderte sich, warum
die Leute immer so lange brauchten, um zu antworten. Es
war doch keine schwere Frage! Sie sei vorbei, antwortete
der Kapitän schließlich, und werde nie wiederkehren. In der Nacht, als Eugen mehr der Aufregung als des
Motorenlärms und außerdem des Schnarchens seines
irischen Kabinengenossen wegen nicht schlafen konnte,
setzte ein veritabler Sturm ein: Wellen schlugen mit ungeheurer Kraft gegen den Stahlrumpf, die Motoren heulten, und als Eugen an Deck taumelte, traf ihn die Gischt
mit solcher Wucht, daß er fast über Bord gegangen wäre.
Triefend naß flüchtete er sich in die Kabine zurück. Der
Ire unterbrach sein Gebet.
Er habe eine große Familie, sagte er in dürftigem Französisch, er sei für sie verantwortlich, er dürfe nicht sterben. Sein Vater sei hartherzig gewesen und habe nicht
lieben können, seine Mutter sei früh gestorben, nun hole
Gott auch ihn.
Seine Mutter lebe noch, sagte Eugen, und sein Vater
habe vieles geliebt, bloß nicht ihn. Und er glaube nicht,
daß Gott ihn schon bei sich haben wolle.
Am nächsten Morgen war der Ozean ruhig wie ein
See. Der Kapitän beugte sich murmelnd über seine Karten, blickte durch den Sextanten und konsultierte die
Harrison-Uhr. Sie seien weitab vom Kurs, nun müßten
sie neuen Brennstoff aufladen.
Darum legten sie in Teneriffa an. Das Licht war gleißend hell, ein Papagei beobachtete sie neugierig vom Balkon eines gerade erst errichteten Zollhauses. Eugen ging
an Land. Männer schrien Befehle, Kisten wurden verladen, spärlich bekleidete Frauen trippelten mit zierlichen
Schritten auf und ab. Ein Bettler bat um Almosen, aber
Eugen hatte nichts mehr. Ein Käfig öffnete sich, und eine
Horde schreiender kleiner Affen stob wie eine Explosion
in alle Richtungen davon. Eugen ließ den Hafen hinter
sich und ging auf den Umriß des Kegelberges zu. Er fragte sich, wie es wäre, auf dem Gipfel zu sein. Man müßte
weit sehen. Die Luft wäre sehr klar.
Am Wegrand war ein Gedenkstein. Ein Relief zeigte
den Berg und daneben einen Mann mit Schal, Gehrock
und Zylinder. Die Aufschrift verstand Eugen, mit Ausnahme des Namens, nicht. Er setzte sich auf einen Felsbrocken, blies Rauchwölkchen in die Luft und betrachtete das Bild auf dem Stein. Ein Einheimischer mit Poncho
und Wollmütze blieb stehen, zeigte darauf, rief etwas auf
Spanisch, zeigte auf den Boden, in die Höhe, wieder auf
den Boden. Ein Tausendfüßler mit ungewohnt langen
Fühlern kletterte Eugens Hosenbein hinauf. Er blickte
sich um. So viele neue Pflanzen. Er fragte sich, wie sie alle heißen mochten. Andererseits – wen interessierte es!
Es waren bloß Namen.
Er kam zu einem ummauerten Garten, dessen Pforte
offen stand. Orchideen klammerten sich an Baumstämme, das Zwitschern Hunderter Vögel durchdrang
die Luft. In der Nähe der offenbar neu gebauten Mauer
stand ein sehr dicker Baum. Seine Rinde war narbig und
rauh, weit oben fächerte sich der Stamm in einen Busch
von Ästen auf. Zögernd trat Eugen in seinen Schatten,
lehnte sich an den Stamm und schloß die Augen. Als er
sie wieder Öffnete, stand ein Mann mit einer Harke vor
ihm und begann zu schimpfen. Eugen lächelte beschwichtigend. Der Baum sei wohl sehr alt? Der Gärtner
stampfte mit dem Fuß auf den Boden und zeigte auf den
Ausgang. Eugen bat um Entschuldigung, er habe ausgeruht, er habe für einen Moment geglaubt, ein anderer zu
sein oder niemand, es sei ein solch angenehmer Ort. Der
Gärtner hob drohend seine Harke, Eugen ging schnell
davon.
Der Dampfer legte früh am Morgen ab, nach wenigen
Stunden waren die Inseln außer Sichtweite. Tagelang lag
der Ozean so ruhig da, daß es Eugen schien, sie bewegten