Hoch über der Menge, von deren Schultern getragen, stand auf einem flachen goldenen Schilde, in einen purpurnen Mantel gehüllt, einen Lorbeerkranz auf dem wallenden Lockenhaar, sein Nebenbuhler, der junge Dichter Julius... Rings aber schrie das Volk: »Heil! Heil! Heil dem unsterblichen Julius! In unserer Trübsal, in unserem großen Kummer hat er uns getröstet! Er hat uns mit Versen beschenkt, süßer als Honig, wohlklingender als Zimbelton, würziger als Rosenduft, klarer als Himmelsbläue! Tragt ihn in Jubel einher, salbt sein begnadetes Haupt mit köstlichem Balsam, kühlt seine Stirn durch sanftes Fächeln mit Palmenzweigen, streut zu seinen Füßen alle Wohlgerüche arabischer Myrrhen! Heil!«
Junius näherte sich einem dieser Beifallsrufer. »Sage mir doch, lieber Mitbürger, mit welchen Versen Julius uns beglückt hat! Leider war ich nicht hier auf dem Platze, als er sie vortrug! Wiederhole sie mir doch, wenn du sie behalten hast, tu mir den Gefallen!«
»Wie sollte man – solche Verse nicht im Gedächtnis behalten?« antwortete erregt der Gefragte. »Wofür hältst du mich denn? So höre – und jauchze, jauchze mit uns!
‘Der Dichtkunst Gönner ihr!’ so begann der göttliche Julius...
‘Der Dichtkunst Gönner ihr! Genossen! Freunde all!
Bewundrer alles des, was edel, groß und herrlich!
Laßt euch vom schweren Harm des Augenblicks nicht trüben!
Die freudge Stunde naht – und Tag verscheucht die Nacht!’
Herrlich, nicht wahr?«
»Um Himmels willen!« rief Junius aus, »das sind ja doch meine eigenen Verse! – Julius hat sich gewiß unter der Volksmenge befunden, als ich sie vortrug – er hat sie gehört und dann wiederholt, wobei er nur einige Ausdrücke – und keineswegs zum Vorteil – veränderte!«
»Aha! Jetzt erkenne ich dich... du bist Junius,« entgegnete stirnrunzelnd der angesprochene Bürger. »Ein Neidhammel bist du oder ein Dummkopf!... So überlege doch nur dies eine, Unglücklicher! Wie erhaben heißt es bei Julius: ‘Und Tag verscheucht die Nacht!’... Bei dir dagegen – so recht abgeschmackt: ‘Und Dunkel weicht dem Licht!’ – Welches Licht?! Welches Dunkel?!«
»Ja, ist das denn nicht ein und dasselbe?« wagte Junius einzuwenden...
»Ein einziges Wort noch,« unterbrach ihn der Bürger, »und ich rufe das Volk auf... das dich zerreißen wird!«
Junius schwieg wohlweislich still, indes ein grauhaariger alter Mann, der sein Gespräch mit dem Bürger gehört hatte, auf den niedergeschlagenen Dichter zutrat, ihm die Hand auf die Schulter legte und sprach:
»Junius! Du gabst Selbstgeschaffenes, aber zur Unzeit; der andere gab nicht Selbstgeschaffenes, doch zur rechten Zeit. – Folglich hat er recht – dir aber bleibt der Trost deines reinen Gewissens.«
Doch während das reine Gewissen – so gut und so weit es irgend vermochte... in Wahrheit jedoch nur sehr schlecht – den Junius tröstete, der sich stumm in einen Winkel gedrückt hatte, schwebte in der Ferne, unter tosendem Beifallsjauchzen, im goldenen Siegesglanz der Sonne, strahlend in Purpur, beschattet vom Lorbeerkranz, von frischem Balsamduft umweht, in feierlicher Langsamkeit, gleich einem Könige, der zur Krönung schreitet, – in gemessener, stolzer Haltung die Gestalt des Julius dahin... und Reihen langer Palmenzweige hoben und neigten sich vor ihm, gleich als wollten sie mit ihrem stummen Sichaufrichten, ihrem demütigen Sichneigen die beständig sich erneuernde Verehrung ausdrücken, welche die Herzen seiner durch ihn bezauberten Mitbürger erfüllte.
Der Sperling
Auf der Heimkehr von der Jagd durchschritt ich die Gartenallee. Mein Hund lief vor mir her.
Plötzlich hemmte er seinen Lauf und begann zu schleichen, gleich als wittere er vor sich ein Wild.
Ich blickte die Allee hinunter und gewahrte einen jungen Sperling mit gelbgerandetem Schnabel und Flaum auf dem Köpfchen. Er war aus dem Neste gefallen – heftiger Wind schüttelte die Birken der Allee – und hockte unbeweglich, hilflos seine kaum hervorgesprossenen Flügelchen ausstreckend.
Langsam näherte mein Hund sich ihm, als plötzlich, von einem nahen Baume sich herabstürzend, der alte schwarzbrüstige Sperling wie ein Stein gerade vor seine Schnauze zu Boden fiel und völlig zerzaust, verstört, mit verzweifeltem, kläglichem Gezeter mehrmals gegen den scharfgezahnten, geöffneten Rachen lossprang. Er warf sich über sein Junges, um es zu retten, mit dem eigenen Leibe wollte er es schützen... doch sein ganzer kleiner Körper bebte vor Schrecken, sein Stimmchen klang wild und heiser, Betäubung erfaßte ihn, er opferte sich selbst!
Als welch riesengroßes Untier mußte ihm der Hund erscheinen! Und dennoch hatte er nicht auf seinem hohen, sicheren Aste zu bleiben vermocht... Eine Macht, stärker als sein Wille, riß ihn von dort herab.
Mein Tresor hielt inne, wich zurück... Sichtlich begriff auch er diese Macht.
Schnell rief ich meinen verblüfften Hund zurück und entfernte mich, Ehrfurcht im Herzen.
Ja; lächelt nicht darüber. Ehrfurcht empfand ich vor diesem kleinen heldenmütigen Vogel, vor der überströmenden Kraft seiner Liebe.