»Das Problem mit den alten Frauen ist doch Folgendes: Menschen als denkende Wesen können die Vergangenheit einfach nicht ruhen lassen. Während der durchschnittliche Hund sich maximal noch daran erinnern kann, was vergangene Woche alles so passiert ist, und selbst eine Katze selten mehr als den vergangenen Monat auf dem Zettel hat, hängen Menschen gerne ganzen Jahren nach. Ich habe es bei meinem Herrchen gesehen: Die Menschenpaare trennen sich, aber dann verbringen sie immer noch genauso viel Zeit mit Streitereien. Sie sind wie gefangen in der Vergangenheit. Und besonders schlimm kann das werden, wenn Menschenkinder zu der ganzen Geschichte gehören. Weil Mann und Frau dann ja tatsächlich immer noch miteinander zu tun haben, als Vater und Mutter.«
Ein interessantes Konzept. Natürlich habe ich auch an meiner Mutter gehangen. Aber man wird als Hund schnell unabhängig von den Eltern. Deckrüde und Hündin wohnen meist sowieso nicht zusammen. Streit über den Aufenthalt des Nachwuchses kann es nicht geben, weil der Züchter den bestimmt. Kein Wunder, dass Menschen ständig Probleme haben. Sie machen es sich einfach zu schwer.
»Also, so wie du es erzählst, wird wohl Folgendes passiert sein: Sabine und Marc haben beschlossen, dass Luisa bei Marc wohnen soll. Leider hat Marc dann vergessen, Sabine zu erzählen, dass Carolin bei ihm einzieht. Und jetzt ist Sabine sauer, weil sie nicht will, dass ihr Kind mit einer fremden Frau zusammenlebt, ohne dass sie vorher gefragt wurde. Vielleicht hat sie auch Angst, dass Carolin ihr die Mutterrolle streitig macht.«
»Hä?«
»Ja, Letzteres ist für Fortgeschrittene. Das erkläre ich dir ein andermal genauer. Momentan verspüre ich tatsächlich ein leichtes Hungergefühl. Weißt du, Nina kocht jetzt immer für mich, und wahrscheinlich wartet schon etwas ganz Leckeres in meinem Napf. Ich sehe dich später!«
Spricht’s, steht auf und verschwindet. So, so. Nina kocht für Herrn Beck. Und der verbringt seine Zeit offenbar lieber mit seiner neuen Freundin als mit mir. Dabei wollte ich ihm noch von Cherie erzählen. Ich bin mir zwar ziemlich sicher, dass Hundedamen nicht gerade in Herrn Becks Kernkompetenz fallen. Trotzdem hätte ich mich gerne mal mit jemandem ausgetauscht. Oder besser: jemandem von Cherie vorgeschwärmt. Und nun lässt mich dieser alte Kater schnöde hier sitzen. Wer hätte das gedacht? Und warum kocht eigentlich niemand für mich?
Bevor ich mich weiter mit dieser Frage befassen kann, streckt Carolin ihren Kopf durch die Terrassentür und ruft nach mir. Ob sie vielleicht Ninas leuchtendem Beispiel gefolgt ist und auch etwas Leckeres für mich vorbereitet hat? Neugierig trabe ich in Richtung Werkstatt.
»So, Herkules, heute machen wir mal früher Feierabend. Ich habe Marc versprochen, dass wir Luisa von der Schule abholen. Der Hort fällt heute aus, wir werden uns also ein bisschen um die junge Dame kümmern.«
Gut, dagegen ist nichts zu sagen – aber was ist denn mit meinem Mittagessen? Oder bekomme ich nicht nur
Aber so wie es aussieht, fällt das Essen tatsächlich aus, denn Carolin hat schon ihre Jacke an und wedelt mit dem Autoschlüssel. Ein eindeutiges Signal zum Aufbruch. Normalerweise erledigt Carolin alles zu Fuß oder mit dem Fahrrad. Werkstatt, Marcs Haus und die Schule liegen schließlich so dicht beieinander, dass es selbst für Menschen keine unüberwindbare Distanz darstellt. Doch mit Hinkefuß ist die sonst so bewegliche Carolin zum Autofahrer mutiert. Nun gut, dann muss ich eben hungern. Wenn ich deshalb gleich die Autositze fresse, ist Carolin selbst schuld. Ich knurre leise vor mich hin, aber dieses Zeichen meines Protests wird von Carolin komplett ignoriert. Stattdessen scheucht sie mich aus der Werkstatt und schließt die Tür hinter uns. Hier im Treppenhaus riecht es verführerisch lecker nach gekochtem Hühnchen. Wahrscheinlich eigens für Herrn Beck zubereitet. So eine Gemeinheit!