Er hieß eigentlich gar nicht Johnny. Sein richtiger Name lautete Corey Everett Walker, er hatte ihn oft genug auf den Stechkarten gelesen, um das zu wissen. Aber schon seit zwanzig Jahren nannten sie ihn alle Johnny. Seine Frau war 1956 auf einer Reise nach Vermont gestorben. Seitdem lebte er mit seinem Bruder zusammen, der einen Lastwagen für die städtische Müllabfuhr fuhr. In der Wäscherei gab es Dutzende von Mitarbeitern, die Ron hinter seinem Rücken ›Stoneballs‹
Er dachte: Wenn Johnny stirbt, dann bin ich der dienstälteste Mitarbeiter in der Wäscherei. Der einzige, der den Rekord von über zwanzig Jahren gebrochen hat. Na, ist das nicht ein Witz, Freddy?
Freddy fand das gar nicht lustig.
Im Wartezimmer der Unfallstation saß Johnnys Bruder, ein großgewachsener Mann, dessen Gesichtszüge Ähnlichkeit mit Johnny hatten. Sie hatten die gleichen hohen Wangenknochen. Er trug einen olivgrünen Overall und darüber eine dicke schwarze Stoffjacke. In den Händen, die hilflos zwischen seinen Knien hingen, drehte er eine olivgrüne Schirmmütze hin und her. Er blickte vor sich auf den Boden, aber als er Schritte hörte, sah er neugierig auf.
»Sind Sie von der Wäscherei?« fragte er.
»Ja. Und Sie sind …« Er hatte nicht erwartet, daß ihm der Name wieder einfallen würde, doch er erinnerte sich.
»Arnie Walker, nicht wahr?«
»Ja, Arnie Walker.« Er schüttelte langsam den Kopf. »Ich weiß nicht, Mr. …?«
»Dawes.«
»Ich weiß nicht, Mr. Dawes, ich hab’ ihn vorhin in einem der Untersuchungsräume gesehen. Er sah ziemlich angeschlagen aus. Er ist ja auch nicht mehr der jüngste. Es steht ziemlich schlimm.«
»Es tut mir sehr, sehr leid«, sagte er.
»Es ist eine schreckliche Kreuzung. Aber ich gebe dem anderen keine Schuld. Er ist einfach im Schnee ins Schleudern gekommen. Es war nicht sein Fehler. Sie sagen, daß er sich die Nase gebrochen hat, sonst nichts. Es ist schon komisch, wie solche Dinge laufen, wissen Sie?«
»Ja, ich weiß.«
»Ich mußte gerade daran denken, wie ich mal einen großen Sattelschlepper nach Hemingway gefahren habe. Das war Anfang der sechziger Jahre. Ich fuhr auf der Indiana-Autobahn, und da sah ich …«
Die Außentür wurde aufgestoßen, und ein Priester kam herein. Er stampfte ein paarmal mit den Füßen auf, um den Schnee abzutreten, und eilte dann den Korridor entlang, er rannte fast. Als Arnie Walker ihn sah, weiteten sich seine Augen und nahmen einen glasigen Ausdruck an, als hätte er einen Schock erlitten. Er stieß einen hohen, wimmernden Ton aus und wollte aufstehen. Er legte seinen Arm um Arnies Schultern und wollte ihn auf den Stuhl zurückdrücken.
»Jesus!« schrie Arnie auf. »Er hatte seine Hostien dabei, haben Sie es nicht gesehen? Er will ihm die letzte Ölung geben … vielleicht ist er sogar schon tot …
Es waren noch andere Leute in dem Warteraum: ein Teenager mit einem gebrochenen Arm, eine ältere Frau mit einer elastischen Binde ums Bein, ein Mann, dessen einer Daumen mit einem riesigen Verband umwickelt war. Sie sahen Arnie an und blickten dann verlegen auf ihre Zeitschriften hinunter.
»Beruhigen Sie sich doch«, sagte er tonlos.
»Lassen Sie mich gehn«, rief Arnie. »Ich muß nach meinem Bruder sehen.«
»Hören Sie …«
Er ließ ihn los. Arnie rannte um die Ecke und verschwand in die Richtung, in die der Priester gegangen war. Er setzte sich auf einen der Plastikstühle und wußte nicht, was er tun sollte. Eine Weile lang blickte er auf den Fußboden, der mit schwarzen, matschigen Fußspuren bedeckt war. Dann sah er zum Empfangsbüro hinüber, wo eine Krankenschwester die Telefonanlage überwachte.. Er blickte aus dem Fenster und stellte fest, daß es nicht mehr schneite.
Plötzlich hörte er ein schluchzendes Geräusch auf dem Korridor. Es kam von den Untersuchungsräumen.
Alle blickten sie auf, und alle hatten sie einen ängstlichen Ausdruck in ihren Augen.
Noch ein Schrei, gefolgt von einem heiseren Ausruf der Trauer.
Alle blickten sie wieder in ihre Zeitschriften. Der Junge mit dem gebrochenen Arm schluckte trocken und erzeugte dadurch ein seltsames Geräusch in der Stille.
Er sprang auf und lief hinaus, ohne sich noch einmal umzusehen.
In der Wäscherei kamen alle auf ihn zugerannt, und Ron Stone hielt sie nicht davon ab. »Ich weiß nichts«, berichtete er ihnen. »Ich konnte nicht herausfinden, ob er noch lebt oder schon gestorben ist. Ihr werdet es bald erfahren. Ich weiß es nicht.«
Er floh in sein Büro. Er fühlte sich seltsam allein und von allem losgelöst.
»Wissen Sie, wie es Johnny geht, Mr. Dawes?« fragte Phyllis ihn. Zum ersten Mal fiel ihm auf, daß Phyllis trotz ihres leicht bläulich gefärbten Haares alt wirkte.
»Es geht ihm schlecht«, antwortete er. »Der Priester war vorhin da, um ihm die letzte Ölung zu geben.«
»Oh, was für eine Schande. Und das so kurz vor Weihnachten!«