Später am Abend betrank er sich doch, trotz seiner guten Vorsätze, und gegen zehn Uhr quälte ihn wieder der vertraute, sentimentale Drang, Mary anzurufen. Statt dessen masturbierte er vor dem Fernseher und kam in dem Augenblick, als ein Ansager dem Publikum klarmachte, daß Anacin mit Abstand das beste und stärkste Schmerzmittel von allen sei.
8. Dezember 1973
Am Samstag fuhr er nicht auf die Autobahn hinaus. Statt dessen wanderte er ziellos im Haus herum und schob alles vor sich her, was eigentlich dringend erledigt werden mußte. Schließlich rief er bei seinen Schwiegereltern an.
Lester und Jean Calloway, Marys Eltern, gingen beide auf die Siebzig zu. Ein paar seiner früheren Anrufe hatte Jean (Charlie nannte sie immer ›Mamma Jean‹) beantwortet, und ihre Stimme war jedesmal zu Eis gefroren, wenn sie festgestellt hatte, daß er am anderen Ende war. Für sie und zweifellos auch für Lester war er so etwas wie ein wildes Tier, das plötzlich durchgedreht war und ihre Tochter gebissen hatte. Und jetzt rief dieses Tier immer wieder bei ihnen an, heulte ihnen betrunken etwas vor und wollte ihr kleines Mädchen zurück, damit es sie wieder beißen konnte.
Doch diesmal war Mary selbst am Telefon: »Hallo?«, und er war so erleichtert, daß er mit normaler Stimme sagen konnte:
»Mary? Ich bin’s.«
»Oh, Bart. Wie geht es dir?« Ihre Stimme verriet ihm nichts.
»Einigermaßen.«
»Und? Reichen deine Southern-Comfort-Vorräte noch aus?«
»Mary, ich bin nicht betrunken.«
»Und, bist du da besonders stolz darauf?« Ihre Stimme war kalt, und das gab ihm einen Stich. In ihren Augen stand er denkbar schlecht da. Konnte ihm ein Mensch, den er so lange gekannt hatte und von dem er geglaubt hatte, ihn wirklich gut zu kennen, so schnell entgleiten?«
»Ich glaube, so ist es«, antwortete er gedehnt.
»Ich habe gehört, daß die Wäscherei schließen mußte«, sagte sie.
»Wahrscheinlich nur vorübergehend«, wandte er ein. Er hatte plötzlich das unangenehme Gefühl, als würde er sich mit einer Fremden in einem Fahrstuhl unterhalten, die seine Konversation ausgesprochen langweilig fand.
»Das ist aber nicht das, was Tom Grangers Frau mir erzählt hat.« Endlich, der Vorwurf. Vorwürfe waren besser als gar nichts.
»Für Tom ist das überhaupt kein Problem. Die Konkurrenz ist schon seit Jahren hinter ihm her. Die Brite-Kleen-Leute.«
Er glaubte, sie seufzen zu hören. »Warum hast du mich angerufen, Bart?«
»Ich finde, daß wir uns mal sehen sollten«, antwortete er vorsichtig. »Wir müssen endlich mal darüber sprechen, Mary.«
»Du meinst, über die Scheidung?« fragte sie. Ihre Stimme klang zwar ruhig, aber er vermeinte nun bei ihr einen Anflug von Panik zu hören.
»Willst du denn eine?«
»Ich weiß nicht,
»Du hast gedacht, alles wäre in Ordnung?« wiederholte er aufgebracht. Plötzlich war er wütend auf sie. »Dann mußt du ziemlich blöd gewesen sein. Hast du etwa geglaubt, ich schmeiße meine Arbeit einfach aus Spaß hin wie ein Highschool-Junge, der eine Stinkbombe in die Schultoilette wirft?«
»Aber was war es dann, Bart? Was ist geschehen?«
Seine Wut fiel in sich zusammen wie ein schmutziger Schneehaufen im Frühling, und er entdeckte, daß sich darunter Tränen verbargen. Er kämpfte grimmig dagegen an und fühlte sich irgendwie betrogen. So etwas durfte nicht passieren, wenn er nüchtern war. Wenn man nüchtern war, sollte man, verdammt noch mal, in der Lage sein, sich zu beherrschen. Aber da stand er nun und hatte den einzigen Wunsch, ihr sein ganzes Leid zu klagen und sich in ihrem Schoß auszuheulen wie ein kleines Kind mit einem kaputten Rollschuh und einem aufgeschlagenen Knie. Er konnte ihr nicht sagen, was schiefgelaufen war, denn er wußte es ja selbst nicht, und ohne Grund zu heulen erweckte den Eindruck, daß er reif fürs Irrenhaus sei.
»Ich weiß es nicht«, antwortete er schließlich.
»War es Charlie?«
Hilflos erwiderte er: »Wenn das ein Teil davon war, wie konntest du dann nur so blind für den Rest sein?«
»Ich vermisse ihn auch, Bart. Immer noch. Jeden Tag.«
Wieder empfand er Auflehnung.
»So hat es keinen Sinn«, sagte er endlich. Die Tränen ran-nen ihm die Wange hinunter, aber er versuchte krampfhaft, sich nichts anmerken zu lassen.
»Gut. Um welche Zeit?«
»Ist mir egal. Ich kann mir von der Arbeit freinehmen.« Der Witz verpuffte wirkungslos.
»Um eins?« schlug sie vor.
»Gut. Ich besorg’ uns einen Tisch.«
»Laß lieber einen reservieren. Du brauchst nicht schon um elf dazusein und dich zu betrinken.«