Sie brachte — noch immer im Strassenanzug, sie hatte noch keine Zeit gehabt, sich umzuziehen — ein auf dem Ofen durchw"armtes Nachthemd, das sie ihrem Mann jetzt anziehen wollte. »Er ist eingeschlafen«, sagte sie l"achelnd und kopfsch"uttelnd, als sie uns so still fand. Und mit dem unendlichen Vertrauen des Unschuldigen nahm sie die gleiche Hand, die ich eben mit Widerwillen und Scheu in der meinen gehalten hatte, k"usste sie wie in kleinem ehelichen Spiel und — wie m"ogen wir drei anderen zugesehen haben! — N. bewegte sich, g"ahnte laut, liess sich das Hemd anziehen, duldete mit "argerlich-ironischem Gesicht die z"artlichen Vorw"urfe seiner Frau wegen der "Uberanstrengung auf dem allzu grossen Spaziergang und sagte dagegen, uns sein Einschlafen anders zu erkl"aren, merkw"urdigerweise etwas von Langweile. Dann legte er sich, um sich auf dem Weg in ein anderes Zimmer nicht zu verk"uhlen, vorl"aufig zu seinem Sohn ins Bett; neben die F"usse des Sohnes wurde auf zwei von der Frau eilig herbeigebrachten Polstern sein Kopf gebettet. Ich fand nach dem Vorangegangenen nichts Sonderbares mehr daran. Nun verlangte er die Abendzeitung, nahm sie ohne R"ucksicht auf die G"aste vor, las aber noch nicht, sah nur hie und da ins Blatt und sagte uns dabei mit einem erstaunlichen gesch"aftlichen Scharfblick einiges recht Unangenehme "uber unsere Angebote, w"ahrend er mit der freien Hand immerfort wegwerfende Bewegungen machte und durch Zungenschnalzen den schlechten Geschmack im Munde andeutete, den ihm unser gesch"aftliches Gebaren verursachte. Der Agent konnte sich nicht enthalten, einige unpassende Bemerkungen vorzubringen, er f"uhlte wohl sogar in seinem groben Sinn, dass hier nach dem, was geschehen war, irgendein Ausgleich geschaffen werden musste, aber auf seine Art ging es freilich am allerwenigsten. Ich verabschiedete mich nun schnell, ich war dem Agenten fast dankbar; ohne seine Anwesenheit h"atte ich nicht die Entschlusskraft gehabt, schon fortzugehen.
Im Vorzimmer traf ich noch Frau N. Im Anblick ihrer armseligen Gestalt sagte ich aus meinen Gedanken heraus, dass sie mich ein wenig an meine Mutter erinnere. Und da sie still blieb, f"ugte ich bei: »Was man dazu auch sagen mag: die konnte Wunder tun. Was wir schon zerst"ort hatten, machte sie noch gut. Ich habe sie schon in der Kinderzeit verloren.« Ich hatte absichtlich "ubertrieben langsam und deutlich gesprochen, denn ich vermutete, dass die alte Frau schwerh"orig war. Aber sie war wohl taub, denn sie fragte ohne "Ubergang: »Und das Aussehen meines Mannes?« Aus ein paar Abschiedsworten merkte ich "ubrigens, dass sie mich mit dem Agenten verwechselte; ich wollte gern glauben, dass sie sonst zutraulicher gewesen w"are. Dann ging ich die Treppe hinunter. Der Abstieg war schwerer als fr"uher der Aufstieg und nicht einmal dieser war leicht gewesen. Ach, was f"ur misslungene Gesch"aftswege es gibt und man muss die Last weiter tragen.
30. GIBS AUF!
Es war sehr fr"uh am Morgen, die Strassen rein und leer, ich ging zum Bahnhof. Als ich eine Turmuhr mit meiner Uhr verglich, sah ich, dass es schon viel sp"ater war, als ich geglaubt hatte, ich musste mich sehr beeilen, der Schrecken "uber diese Entdeckung liess mich im Weg unsicher werden, ich kannte mich in dieser Stadt noch nicht sehr gut aus, gl"ucklicherweise war ein Schutzmann in der N"ahe, ich lief zu ihm und fragte ihn atemlos nach dem Weg. Er l"achelte und sagte: »Von mir willst du den Weg erfahren?« »Ja«, sagte ich, »da ich ihn selbst nicht finden kann.« »Gibs auf, gibs auf«, sagte er und wandte sich mit einem grossen Schwunge ab, so wie Leute, die mit ihrem Lachen allein sein wollen.
31. VON DEN GLEICHNISSEN
Viele beklagen sich, dass die Worte der Weisen immer wieder nur Gleichnisse seien, aber unverwendbar im t"aglichen Leben, und nur dieses allein haben wir. Wenn der Weise sagt: »Gehe hin"uber«, so meint er nicht, dass man auf die andere Seite hin"ubergehen solle, was man immerhin noch leisten k"onnte, wenn das Ergebnis des Weges wert w"are, sondern er meint irgendein sagenhaftes Dr"uben, etwas, das wir nicht kennen, das auch von ihm nicht n"aher zu bezeichnen ist und das uns also hier gar nichts helfen kann. Alle diese Gleichnisse wollen eigentlich nur sagen, dass das Unfassbare unfassbar ist, und das haben wir gewusst. Aber das, womit wir uns jeden Tag abm"uhen, sind andere Dinge.
Darauf sagte einer: »Warum wehrt ihr euch? W"urdet ihr den Gleichnissen folgen, dann w"aret ihr selbst Gleichnisse geworden und damit schon der t"aglichen M"uhe frei.«
Ein anderer sagte: »Ich wette, dass auch das ein Gleichnis ist.«
Der erste sagte: »Du hast gewonnen.«
Der zweite sagte: »Aber leider nur im Gleichnis.«
Der erste sagte: »Nein, in Wirklichkeit; im Gleichnis hast du verloren.«