»Ja, Dr. Bowman?«, war Claires Stimme zu hören.
»Aus meinem Büro ist ein Foto verschwunden, Claire, das Foto von meiner Familie. Vermissen Sie auch irgendetwas?«
»Nicht dass ich wüsste, Doktor, aber ich werd mal genauer nachsehen.«
»Ja bitte, wenn's nicht zu große Mühe macht. Noch etwas, Claire: Erkundigen Sie sich, wer hier sauber gemacht hat Kann ja sein, dass das Foto beim Putzen heruntergefallen und der Rahmen zerbrochen ist Und dann haben die aus Angst nichts gesagt. Aber an diesem Foto hab ich besonders gehangen, und ich kann es nicht wieder abziehen lassen, weil ich kein Negativ besitze.«
»Wird erledigt.« Claire schaltete die Sprechanlage aus.
Etwas durcheinander nahm Scott wieder Platz und fuhr sich mit den Händen unbewusst an die Hüfte. In letzter Zeit hatte es in der Klinik einige Probleme mit kleineren Diebstählen gegeben: Aus unbeaufsichtigten Handtaschen war Geld verschwunden, aus offenen Garderoben Kleidung entwendet worden. Das Klauen hatte so lange angehalten, bis man schließlich zwei Leute vom Putzpersonal dingfest gemacht hatte. Einige der vermissten Dinge waren in ihren Spinden wieder aufgetaucht. Allerdings begriff Scott nicht ganz, was irgendjemand mit einem Foto anfangen sollte - bis ihm wieder einfiel, dass der Messingrahmen eine Antiquität und kostbar war. Aber warum fehlte dann nichts anderes?
Mit einem letzten skeptischen Blick auf die Zeichnungen verstaute er sie in einer der oberen Schreibtischschubladen. Danach rief er bei Steve Franklin an.
12
Als Scott am späten Nachmittag die letzten der längst überfalligen therapeutischen Abschlussberichte diktierte - es hatte sich jede Menge angesammelt meldete sich seine Vorzimmerdame über die Gegensprechanlage. »Ein Anruf für Sie, Doktor, die Hämatologie.« Ehe Scott den Anruf entgegennahm, ließ er sich einen Moment Zeit, weil er seine Beine in eine bequemere Position bringen wollte. Vorhin hatte Steve Franklin seine Hüfte geröntgt und untersucht und ihm mitgeteilt, die Gelenkkapsel sei im Kern geschädigt. Nichts Ernstes, aber, wie Scott schon vermutet hatte, eine Sache, die sich im Laufe der kommenden Jahre immer wieder bemerkbar machen würde - höchstwahrscheinlich sogar sein Leben lang. Steve hatte ihm einige starke Schmerztabletten und das Rezept für ein entzündungshemmendes Mittel mitgegeben, das Scott in der Klinikapotheke eingelöst hatte. Anschließend war er in sein Büro zurückgekehrt und hatte sich darangemacht, einige der trockenen, langweiligen Dinge aufzuarbeiten, für die er unter der Woche normalerweise kaum Zeit fand. Meistens musste er einen Teil seiner Freizeit darauf verwenden.
Während er den Hörer abnahm und sich meldete, fischte er die Zeichnungen aus der Schublade und breitete sie vor sich auf dem Schreibtisch aus. An den Stellen, wo der Laborant den Farbstoff weggekratzt hatte, waren die bösartigen Augen des Ungeheuers auf dem Seegrund weiß und leer.
»Hallo, Dr. Bowman, Mike von der Hämatologie. Es ist tatsächlich Blut.« »Menschliches? «
»Ja, menschliches, Blutgruppe A negativ.« »Danke, ich weiß Ihre Hilfe sehr zu schätzen.« Während er auflegte, machte sein Herz einen Satz und klopfte unruhig. Der Alte hatte die Blutgruppe Null negativ, das hatte er seinem Krankenblatt entnommen, ehe er Steve Franklin konsultiert hatte.
Er griff in die Hüfttasche, kramte die Brieftasche hervor, ging die Plastikfächer durch, zog die Karten heraus und ließ sie eine nach der anderen auf die Schreibtischplatte fallen - die ärztliche Zulassung, den Mitgliedsausweis der kanadischen Ärztevereinigung, Visa, American Express. Schließlich fand er, was er gesucht hatte: eine hellblaue Karte mit leichten Eselsohren. Die hatte er vom Roten Kreuz bekommen, als er einmal (und nie wieder) Blut gespendet hatte. Darauf waren Name, Adresse und Blutgruppe vermerkt: A negativ.