Caroline griff nach Scotts Hand und drückte sie. Nach kurzem Zögern stand Scott auf und nahm Caroline in die Arme. Mit zuckenden Schultern presste sie ihr Gesicht gegen Scotts Brust und weinte. Scotts Augen blieben trocken. Er empfand nichts als eine innere Leere, da er die ganze Situation schlicht nicht fassen konnte. Als er zu schlucken versuchte, fehlte ihm jeder Speichel. Irgendetwas drückte bedenklich auf seine Magengrube: Er hatte Flugzeuge im Bauch, eine schreckliche innere Unruhe machte ihm zu schaffen.
23
Nachdem er wieder zu Dr. Holley, dem Untersuchungsbeamten, gestoßen war, hielt er sich nahe hinter ihm - wie ein Hund, der seinem Herrchen bei Fuß folgt In der Stille der Nacht hallten ihre Schritte auf dem Gang der Klinik wider. Scott kam das Geräusch allzu laut vor, wie von einem Verstärker verzerrt. Als sie um die Ecke zur Notaufnahme bogen und Holley den Vorhang, der die Nische abteilte, aufzog, erinnerte sich Scott an die erste und einzige Narkose, die er im Leben bekommen hatte. Ihm fiel ein, wie ihm die Geräusche - die Stimmen der Arzte und Schwestern, das Klirren und Klappern des Operationsbestecks, das Zischen kondensierter Gase - beim freien Fall ins Leere unnatürlich laut vorgekommen waren. Was er jetzt erlebte, war ähnlich: Aufgrund seines erhöhten Wahrnehmungsvermögens empfand er alles als real und gleichzeitig irreal.
Von der Decke strahlte ein Neonleuchtkörper; eine Röhre flackerte und würde bald ihren Geist aufgeben. An der Wand hing eine Manschette zum Blutdruckmessen, in einer Ecke stand ein verstellbarer Hocker und in der Raummitte eine Bahre, auf der ein in Laken gehüllter Leichnam lag. Vom Körper waren nur die wächsernen, von der Todesstarre steifen Füße zu sehen.
Scott, oder irgendeinem Teil von ihm, der sämtliches Denken und alle Empfindungen ausgeschaltet hatte, war durchaus klar, dass es Kristas Leichnam war. Wer sonst würde Nagellack in knalligem Lila auftragen? Die Umrisse ihrer schlanken Figur hätte er überall wiedererkannt, unter hundert verhüllenden Laken. Wie oft hatte er sie so gesehen, unter einer seidenen Tagesdecke, wenn ihr warmer Körper darauf gewartet hatte, dass er ...
Womöglich ist sie jetzt genau dort, schoss es ihm durch den Kopf, zu Hause im Bett, schlummert fest und friedlich an meiner Seite und ahnt gar nichts von diesem düsteren, schrecklichen Albtraum.
Als Scott sich der Bahre näherte, musste er gewaltsam gegen den Drang zur Flucht ankämpfen. Er ging wie auf Watte.
Scotts Augen konzentrierten sich auf einen imaginären Punkt zwischen ihm und dem Leichnam auf der Bahre. Die immer noch viel zu lauten Geräusche um ihn herum verschmolzen nach und nach zu einem Summen tief in seinem Schädel, das so wie das Sirren von Hochspannungsleitungen bei starkem Wind klang.
Bedächtig wie ein Bergsteiger, der nach einem schlaffen Seil greift und es sorgfältig spannt, nahm er das Bild ins Visier. Es Kristallisierte sich heraus, wurde unscharf und gleich darauf wieder deutlich.
Scott Bowman sah auf den Leichnam seiner Frau herab: auf die tödlich verletzte, eingedrückte Stirn; auf das angeschwollene, gerötete Gesicht; auf die blutverschmierten Augenlider und die Nase; auf das zerschmetterte Gebiss; auf die dünnen, zurückgezogenen Lippen, die ihn an das letzte
Zähnefletschen eines tödlich verwundeten Tieres am Straßenrand erinnerten. Aber was er wahrnahm, war nur irgendein Leichnam in einem Labor der Anatomie.
Als Holley den Leichnam wieder bedecken wollte, hinderte Scott ihn daran und zog stattdessen das Laken noch weiter herunter.
Da waren ihre Brüste, seltsam flach und dort, wo das Lenkrad sie gequetscht hatte, mit einem rötlichen Bogen überzogen; dort ihr auf Melonengröße angeschwollener, angespannter, mit blauen Flecken übersäter Bauch. Scott war klar, dass sich an dieser Stelle ihr ganzes Blut gestaut haben musste.
Ihre Hände jedoch ... ihre Hände waren völlig unversehrt.
Kristas Hände.
Oh Gott, wie bleich sie waren.
Scott ließ das Laken sinken, um Kristas linke Hand in seine zu nehmen