Überhaupt kann man sagen, daß die Ereignisse des gestrigen Tages Herrn Goljadkin bis auf den tiefsten Grund seiner Seele erschüttert hatten. Unser Held schlief sehr schlecht, d. h. er konnte nicht einmal auf fünf Minuten richtig einschlafen, gerade wie wenn ein Spaßvogel ihm kleingeschnittene Borsten ins Bett gestreut gehabt hätte. Die ganze Nacht verbrachte er in einem Zwischenzustande zwischen Schlafen und Wachen, indem er sich von einer Seite auf die andere wälzte, stöhnte, sich räusperte, für einen Augenblick einschlief und im nächsten Augenblick wieder erwachte; und all das wurde von einem seltsamen Gefühl des Kummers, von unklaren Erinnerungen und häßlichen Träumen begleitet, mit einem Worte von allem, was es nur Unangenehmes geben kann... Bald erschien vor ihm in einem sonderbaren, rätselhaften Dämmerlichte Andrei Filippowitschs Gesicht, dieses harte, ärgerliche Gesicht, mit dem harten, strengen Blicke und dem trocken-höflichen Herumräsonieren... Und kaum fing Herr Goljadkin an, zu Andrei Filippowitsch heranzutreten, um sich vor ihm irgendwie, auf die eine oder die andere Weise, zu rechtfertigen und ihm zu beweisen, daß er ganz und gar nicht ein solcher Mensch sei, wie ihn seine Feinde darstellten, sondern vielmehr ein so und so beschaffener, und daß er sogar außer seinen gewöhnlichen, angeborenen guten Eigenschaften noch diese und jene besonderen besitze: da erschien die durch ihre unlautere Denkweise bekannte Person und zerstörte durch irgendein ganz empörendes Mittel mit einem Schlage Herrn Goljadkins gesamte Bemühungen, verdarb beinahe vor dessen Augen seinen guten Ruf gründlich, trat sein Ehrgefühl in den Schmutz und nahm dann unverzüglich den Platz desselben im Dienste und in der Gesellschaft ein. Bald wieder juckte es Herrn Goljadkin im Gesichte von einem unlängst wohlerworbenen und demütig hingenommenen Nasenstüber, einem Nasenstüber, den er entweder im gewöhnlichen Leben oder auch im Dienste erhalten hatte, und gegen den er nicht leicht Protest einlegen konnte... Und während Herr Goljadkin anfing, sich den Kopf darüber zu zerbrechen, warum es eigentlich so schwer sei, gegen einen solchen Nasenstüber zu protestieren, ging dieser Gedanke an den Nasenstüber unmerklich in eine andere Form über, in die Form einer gewissen kleinen oder auch recht beträchtlichen Gemeinheit, die er gesehen, gehört oder auch unlängst selbst begangen hatte, wie er denn dergleichen häufig beging, nicht aus gemeinem Charakter, auch nicht aus irgendwelcher gemeinen Absicht, sondern nur so ohne besonderen Grund, manchmal z. B. rein zufällig, aus Zartgefühl, ein andermal aus dem Gefühle seiner völligen Hilflosigkeit, na, schließlich auch weil... weil, kurz gesagt, Herr Goljadkin wußte recht gut, weswegen! Hier errötete Herr Goljadkin im Traume, und indem er sein Erröten zu unterdrücken versuchte, murmelte er vor sich hin, hier könne man z. B. Charakterstärke zeigen, man könne im vorliegenden Falle bedeutende Charakterstärke zeigen... und dann schloß er: »Was ist denn Charakterstärke? Was hat es für Zweck, ihr Wesen jetzt zu begreifen?...« Aber am meisten trug dazu, Herrn Goljadkin zu reizen und in Wut zu versetzen, der Umstand bei, daß unfehlbar in solchen Augenblicken, gerufen oder ungerufen, die ihm durch ihre Schändlichkeit und ihr spöttisches Benehmen bekannte Person erschien und, obgleich die Sache doch wohl schon hinreichend bekannt war, ebenfalls mit einem unpassenden Lächeln murmelte: »Was soll denn hier Charakterstärke? Und was besitzen wir beide, ich und du, Jakow Petrowitsch, denn für Charakterstärke?...« Dann wieder hatte Herr Goljadkin einen andern Traum: er befand sich in einer schönen, durch das geistreiche Wesen und den vornehmen Ton aller anwesenden Personen ausgezeichneten Gesellschaft und zeichnete sich seinerseits durch Geist und Liebenswürdigkeit aus; alle gewannen ihn lieb, sogar, was ihm besonders angenehm war, einige seiner Feinde, die ebenfalls anwesend waren, und alle räumten ihm den Vorrang ein, und er hörte endlich selbst mit Vergnügen, wie der Hausherr dort einen der Gäste beiseite führte und ihn, Herrn Goljadkin, lobte... und dann auf einmal erschien mir nichts dir nichts wieder die durch ihre Bosheit und brutalen Instinkte bekannte Person in Gestalt Herrn Goljadkins des jüngeren und zerstörte mit einem Schlage, in einem Augenblicke, durch ihr bloßes Erscheinen den ganzen Ruhm und Triumph Herrn Goljadkins des älteren, stellte Goljadkin den älteren völlig in den Schatten, trat ihn in den Schmutz und bewies zuletzt klar, Goljadkin der ältere, also der richtige, sei überhaupt nicht der richtige, sondern eine Fälschung, und sie sei vielmehr der richtige; Goljadkin der ältere sei überhaupt nicht das, was er zu sein scheine, sondern ein so und so beschaffener Mensch und mithin nicht befugt und berechtigt, sich in der Gesellschaft von Leuten mit anständiger Denkweise und seinen Umgangsformen zu bewegen. Und all dies geschah so schnell, daß Herr Goljadkin noch nicht Zeit gehabt hatte, den Mund aufzutun, als sich bereits alle mit Leib und Seele dem widerwärtigen, gefälschten Herrn Goljadkin hingegeben hatten und mit der tiefsten Verachtung ihn, den echten, unschuldigen Herrn Goljadkin, von sich stießen. Es blieb keine Person übrig, deren Gesinnung der widerwärtige Herr Goljadkin nicht in einem Augenblicke auf seine Weise umgestimmt hätte. Es blieb keine Person übrig, auch nicht die unbedeutendste der ganzen Gesellschaft, an die sich der nichtswürdige, unechte Herr Goljadkin nicht in seiner Weise auf die süßeste Manier herangeschlängelt, der er sich nicht in seiner Weise aufgedrängt, vor der er nicht nach seiner Gewohnheit mit etwas sehr Angenehmem, Süßem geräuchert hätte, was der Umräucherte nur zu riechen brauchte, um zum Zeichen des höchsten Vergnügens bis zu Tränen zu niesen. Und was die Hauptsache war: das alles geschah in einem Momente; die Schnelligkeit, mit der der verdächtige, nichtswürdige Herr Goljadkin verfuhr, war erstaunlich! Kaum war er damit fertig geworden, sich mit dem einen zu befreunden und sich dessen Wohlwollen zu erwerben, als er auch schon, ehe man auch nur mit den Augen blinzeln konnte, einen zweiten in Angriff nahm. Nun befreundete er sich still und sachte mit dem zweiten und entlockte ihm ein Lächeln der Geneigtheit, machte mit seinem kurzen, drallen, dabei aber recht stämmigen Beinchen einen Kratzfuß und war bereits beim dritten und machte auch dem dritten schon den Hof und gewann ihn sich zum Freunde; und ehe man noch hatte den Mund öffnen und in Erstaunen geraten können, war er schon beim vierten und war mit dem vierten ebensoweit gelangt, – es war ordentlich ängstlich, geradezu Zauberei! Und alle freuten sich über ihn, alle hatten ihn gern, alle lobten ihn, und alle sprachen sich einstimmig dahin aus, daß seine Liebenswürdigkeit und seine satirische Veranlagung unvergleichlich viel höher standen als die Liebenswürdigkeit und satirische Veranlagung des wirklichen Herrn Goljadkin, und demütigten damit den wirklichen, unschuldigen Herrn Goljadkin und wandten sich von dem wahren Herrn Goljadkin ab und verjagten sogar den wohlgesinnten Herrn Goljadkin mit Püffen und Stößen und überschütteten den durch seine Nächstenliebe bekannten wirklichen Herrn Goljadkin mit Nasenstübern!... Voll Kummer, Angst und Wut rannte der vielgeprüfte Herr Goljadkin auf die Straße und wollte sich eine Droschke holen, um geradeswegs zu Seiner Exzellenz zu fahren, und wenn das nicht, so doch wenigstens zu Andrei Filippowitsch; aber welch ein Schrecken! die Droschkenkutscher weigerten sich, Herrn Goljadkin zu fahren; »nein, Herr,« sagten sie, »zwei ganz gleiche Personen zu fahren, das ist nicht erlaubt, Euer Wohlgeboren; ein guter Mensch ist darauf bedacht, ehrbar zu leben, und ist nie doppelt.« Fassungslos vor Scham blickte der durchaus ehrbare Herr Goljadkin um sich und überzeugte sich tatsächlich selbst mit seinen eigenen Augen, daß die Droschkenkutscher und der mit ihnen im Einverständnis befindliche Petruschka recht hatten; denn der verworfene Herr Goljadkin war in der Tat auch dort, neben ihm, nicht weit von ihm entfernt, und schickte sich seiner gemeinen Gewohnheit gemäß auch jetzt in diesem Augenblicke zweifellos an, etwas sehr Unanständiges zu tun, etwas, was ganz und gar keine besondere Vornehmheit des Charakters bekundete, eine Vornehmheit, die man gewöhnlich durch die Erziehung erhält, und deren der widerwärtige Herr Goljadkin der zweite sich bei jeder geeigneten Gelegenheit zu rühmen pflegte. Ganz vernichtet und vor Scham und Verzweiflung von sich selbst nicht wissend, stürzte der durchaus wahre Herr Goljadkin blindlings davon, wohin der Wille des Schicksals ihn führte; aber bei jedem Schritte, den er tat, bei jedem Aufschlagen seines Fußes auf den Granit des Trottoirs sprang aus der Erde ein Herr Goljadkin heraus, der jenem verworfenen, widerwärtigen Menschen vollkommen ähnlich war. Und alle diese vollkommen ähnlichen Gestalten begannen sofort nach ihrem Erscheinen einer hinter dem andern her zu laufen und wackelten in langer Kette wie eine Reihe von Gänsen hinter Herrn Goljadkin dem älteren her, so daß dieser ihnen nirgendhin entfliehen konnte und dem in jeder Hinsicht bedauernswerten Herrn Goljadkin vor Angst der Atem stockte und zuletzt eine furchtbare Menge solcher vollkommenen Ebenbilder entstanden war und die ganze Residenz zuletzt von ihnen wimmelte und ein Polizist angesichts einer solchen Störung der Ordnung sich genötigt sah, sie alle beim Kragen zu nehmen und in sein zufällig in der Nähe befindliches Schilderhaus zu sperren... Starr und eiskalt vor Angst erwachte unser Held und hatte die Empfindung, daß er auch im Wachen die Zeit kaum heiterer verbringen werde... Er fühlte sich bedrückt und gequält... Es befiel ihn eine Traurigkeit, als ob ihm jemand das Herz in der Brust mit den Zähnen zerfleischte...