Sie war blond und fett und trug einen Morgenrock aus lachsfarbener französischer Seide mit Spitzen. Neubauer hatte ihn ihr 1941 von einem Urlaub aus Paris mitgebracht. Ihre Backen zitterten, und ihr zu kleiner Mund kaute an Worten.
»Es ist vorbei, Selma. Beruhige dich.«
»Vorbei -« sie kaute weiter, als wären die Worte zu große Königsberger Klopse.
»Für wie – wie lange?«
»Für immer. Sie sind weg. Der Angriff ist abgeschlagen. Sie kommen nicht wieder.«
Selma Neubauer hielt ihren Morgenrock über der Brust fest. »Wer sagt das, Bruno?
Woher weißt du das?«
»Wir haben mindestens die Hälfte abgeschossen. Die werden sich hüten, wiederzukommen.«
»Woher weißt du das?«
»Ich weiß es. Sie haben uns diesmal überrascht. Das nächstemal werden wir ganz anders auf dem Posten sein.«
Die Frau hörte auf zu kauen. »Das ist alles?« fragte sie. »Das ist alles, was du uns sagen kannst?«
Neubauer wußte, daß es nichts war. »Ist es nicht genug?« fragte er deshalb barsch zurück.
Seine Frau starrte ihn an. Ihre Augen waren wässerig und hellblau. »Nein!« kreischte sie plötzlich.
»Das ist nicht genug! Das ist nichts als Quatsch! Es heißt gar nichts!
Was haben wir nicht alles schon gehört? Erst erzählt man uns, wir wären so stark, daß nie ein feindlicher Flieger nach Deutschland hereinkäme, und auf einmal kommen sie doch. Dann heißt es, sie kämen nicht wieder, wir schössen sie von nun an alle an den Grenzen ab, und statt dessen kommen zehnmal so viele zurück, und der Alarm geht andauernd. Und jetzt haben sie uns schließlich hier auch erwischt, und da kommst du großartig und sagst, sie würden nicht wiederkommen, wir würden sie schon kriegen! Und das soll ein vernünftiger Mensch glauben?«
»Selma!« Neubauer warf unwillkürlich einen Blick auf das Bild des Führers. Dann sprang er zur Tür und warf sie zu. »Verdammt! Nimm dich zusammen!« zischte er.
»Willst du uns alle ins Unglück bringen? Bist du verrückt geworden, so zu schreien?«
Er stand dicht vor ihr. Über ihren dicken Schultern blickte der Führer weiter kühn in die Landschaft von Berchtesgaden. Neubauer hatte einen Augenblick fast geglaubt, er hätte alles mit angehört.
Selma sah den Führer nicht. »Verrückt?« kreischte sie. »Wer ist verrückt? Ich nicht.
Wir hatten ein wunderbares Leben vor dem Kriege – und jetzt? Jetzt? Ich möchte wissen, wer da verrückt ist?«
Neubauer ergriff mit beiden Händen ihre Arme und schüttelte sie so, daß ihr Kopf hin- und herflog und sie nicht mehr schreien konnte. Ihr Haar löste sich, ein paar Kämme fielen heraus, sie verschluckte sich und hustete. Er ließ sie frei. Sie fiel wie ein Sack auf die Chaiselongue. »Was ist mit ihr los?« fragte er seine Tochter.
»Nichts weiter. Mutter ist sehr aufgeregt.«
»Warum? Es ist doch nichts passiert.«
»Nichts passiert?« begann die Frau wieder. »Dir natürlich nicht, da oben! Aber wir hier allein -«
»Ruhig! Verdammt! Nicht so laut! Habe ich dafür fünfzehn Jahre geschuftet, damit du mit deinem Geschrei alles auf einen Schlag wieder vernichtest? Meinst du, es warten nicht schon genug darauf, meinen Posten zu schnappen?«
»Es war das erste Bombardement, Vater«, sagte Freya Neubauer ruhig. »Bisher haben wir doch nur Alarme gehabt. Mutter wird sich schon gewöhnen.«
»Das erste? Natürlich das erste! Wir sollten froh sein, daß bisher noch nichts passiert ist, anstatt Unsinn zu schreien.«
»Mutter ist nervös. Sie wird sich schon gewöhnen.«
»Nervös!« Neubauer war irritiert durch die Ruhe seiner Tochter. »Wer ist nicht nervös? Meinst du, ich bin nicht nervös? Man muß sich beherrschen können. Was würde sonst passieren?«
»Dasselbe!« Seine Frau lachte. Sie lag auf der Chaiselongue, die plumpen Beine gespreizt. Ihre Füße steckten in rosa Seidenschuhen. Sie hielt Rosa und Seide für sehr elegant. »Nervös!
Gewöhnen! Du kannst gut reden!«
»Ich? Wieso?«
»Dir passiert nichts.«
»Was?«
»Dir passiert nichts. Aber wir sitzen hier in der Falle.«
»Das ist ja blühender Unsinn! Einer ist wie der andere. Wieso kann mir denn nichts passieren?«
»Du bist sicher, da oben in deinem Lager!«
»Was?« Neubauer warf seine Zigarre zu Boden und trampelte darauf. »Wir haben nicht solche Keller wie ihr hier.« Es war gelogen.
»Weil ihr keine braucht. Ihr seid außerhalb der Stadt.«
»Als ob das was ausmachte! Wo eine Bombe hinfällt, da fällt sie hin.«
»Das Lager wird nicht bombardiert werden.«
»So? Das ist ja ganz neu. Woher weißt du denn das? Haben die Amerikaner eine Nachricht darüber abgeworfen? Oder dir speziell Bescheid gesagt?«
Neubauer sah auf seine Tochter. Er erwartete Beifall für diesen Witz. Aber Freya zupfte an den Fransen einer Plüschdecke, die über den Tisch neben der Chaiselongue gebreitet war. Dafür antwortete seine Frau. »Sie werden ihre eigenen Leute nicht bombardieren.«
»Quatsch! Wir haben gar keine Amerikaner da. Auch keine Engländer. Nur Russen, Polen, Balkangesindel und deutsche Vaterlandsfeinde, Juden, Verräter und Verbrecher.«
»Sie werden keine Russen und Polen und Juden bombardieren«, erklärte Selma mit stumpfem Eigensinn.