Sie kamen nach einer halben Stunde zurück. Neubauer hatte ihnen den Befehl für den Transport gezeigt. Es war bereits der zweite gewesen. Innerhalb einer Stunde sollten zweitausend Mann gestellt werden und das Lager verlassen. Neubauer hatte sich bereit erklärt, den Transport bis zum nächsten Morgen zu verschieben. Die geheime Lagerleitung trat sofort im Hospital zusammen. Sie erreichte zunächst, daß der SS-Arzt, Dr. Hoffmann, der umgefallen war, versprach, seinen Einfluß bei Neubauer zu benützen, die Meldung der zwanzig politischen Gefangenen ebenfalls bis zum nächsten Tage zu verschieben und den Appell abzusagen. Dadurch würde die Anordnung, kein Essen auszugeben, hinfällig werden. Der Arzt ging sofort. Die Lagerleitung beschloß, am nächsten Morgen auf keinen Fall Leute zum Transport zu stellen. Wenn die SS die zweitausend Mann zusammentreiben wollte, sollte sabotiert werden. Die Gefangenen sollten in Baracken und Straßen zu entkommen suchen. Der Lagerschutz, der aus Häftlingen bestand, wollte dabei behilflich sein. Es war anzunehmen, daß die SS, abgesehen von einem Dutzend Leuten, kein Interesse zeigen würde, sich durch allzu großen Diensteifer auszuzeichnen. Diese Meldung war durch den SS-Scharführer Bieder gekommen, der als zuverlässig galt. Als letztes kam ein Entschluß von zweihundert tschechischen Häftlingen. Sie erklärten sich bereit, als erste zu gehen, wenn der Transport doch gebildet würde, um zweihundert andere, die ihn nicht mehr aushaken könnten, zu retten. Werner hockte in einem Hospitalkittel neben der Fleckfieberabteilung. »Jede Stunde arbeitet für uns«, murmelte er. »Ist Hoffmann noch bei Neubauer?« »Ja.« »Wenn er nichts erreicht, müssen wir uns selbst helfen.« »Mit Gewalt?« fragte Lewinsky. »Nicht offen mit Gewalt. Halb mit Gewalt. Aber erst morgen. Morgen sind wir doppelt so stark wie heute.« Werner blickte aus dem Fenster und nahm dann seine Tabellen wieder vor. »Noch einmal. Wir haben Brot für vier Tage, wenn wir täglich eine Ration ausgeben. Mehl. Graupen, Nudeln sind -«
»Also gut, Herr Doktor. Ich werde es auf meine Kappe nehmen. Bis morgen.« Neubauer blickte dem Hospitalleiter nach und pfiff leise vor sich hin. Du auch, dachte er. Meinetwegen! Je mehr, desto besser. Können uns gegenseitig entlasten. Vorsichtig legte er den Transportbefehl in seine besondere Mappe. Dann tippte er auf der kleinen Reiseschreibmaschine seine Anordnung, den Transport zu verschieben, und fügte sie hinzu. Er öffnete das Safe, packte die Mappe hinein und schloß ab. Der Befehl war ein Glücksfall gewesen. Er holte die Mappe noch einmal hervor und öffnete die Schreibmaschine wieder. Langsam tippte er ein neues Memorandum -die Aufhebung von Webers Anordnung, kein Essen auszugeben. Dafür ein eigener Befehl fürreichliches Abendessen im Lager. Kleine Dinge – aber alle von Wert. In der SS-Kaserne herrschte eine gedrückte Stimmung. Der Oberscharführer Kammler überlegte verdrossen, ob er pensionsberechtigt sei und ob die Pension bezahlt werden würde; er war ein verkrachter Student und hatte nichts gelernt, um arbeiten zu können. Der SS-Mann und ehemalige Schlächtergeselle Florstedt grübelte darüber nach, ob wohl alle Leute tot seien, die er in den Jahren 1933 bis 1935 unter den Händen gehabt hatte. Er wünschte es. Von etwa zwanzig wußte er es. Er hatte sie selbst mit Peitschen, Tischbeinen und Ochsenziemern erledigt. Aber von etwa zehn anderen wußte er es nicht so genau. Der kaufmännische Angestellte, Scharführer Bolte, hätte gern von einem Fachmann erfahren, ob seine Unterschlagungen im Zivilberuf verjährt waren oder nicht. Niemann, der Abspritzer, hatte einen homosexuellen Freund in der Stadt, der versprochen hatte, ihm falsche Papiere zu besorgen; aber er traute ihm nicht und nahm sich vor, eine letzte Spritze für ihn bereitzuhalten. Der SS-Mann Duda beschloß, sich nach Spanien und Argentinien durchzuschlagen; er erwartete, daß man in solchen Zeiten immer Leute gebrauchen könne, die vor nichts zurückschreckten. Breuer tötete im Bunker den katholischen Vikar Werkmeister, indem er ihn langsam, mit Pausen, erdrosselte. Der Scharführer Sommer, ein sehr klein gewachsener Mensch, der eine besondere Freude daran gehabt hatte, groß gewachsene Häftlinge zu entsetztem Schreien zu bringen, war voll Wehmut wie ein verblühendes Mädchen nach den goldenen Tagen der Jugend. Ein halbes Dutzend anderer SS- Leute hoffte, die Häftlinge würden ihnen gute Zeugnisse ausstellen; einige glaubten noch an einen Sieg Deutschlands; andere waren bereit, zu den Kommunisten überzugehen; eine Anzahl war bereits überzeugt, nie wirkliche Nazis gewesen zu sein; viele dachten einfach gar nichts, weil sie es nie gelernt hatten. Fast alle aber hatten das Bewußtsein, daß sie stets auf Befehl gehandelt hatten und dadurch von jeder persönlichen und menschlichen Schuld frei waren.
»Über eine Stunde«, sagte Bucher.