Neben ihm robbte Johanson heran. Er legte sich auf den Bauch und versuchte, nach unten ins Netz zu langen, aber es war zu tief.
»Du musst irgendwie hochkommen«, sagte Anawak hilflos. Dann fasste er einen Entschluss. »Nein, bleib da. Ich komme zu dir runter. Ich hieve dich raus, und Sigur hilft von oben.«
»Vergiss es«, sagte Greywolf gequetscht.
»Jack …«
»Es ist besser so.«
»Red keinen Mist«, herrschte Anawak ihn an. »Komm mir bloß nicht mit dieser Kinoscheiße, von wegen, lasst mich zurück, kümmert euch nicht um mich, blabla.« »Leon, mein Freund …« »Nein! Ich sage nein!« Aus Greywolfs Mund floss ein dünner Streifen Blut. »Leon …«
Er lächelte. Plötzlich wirkte er sehr entspannt.
Dann richtete er sich mit einem Ruck auf, rollte sich über die Netzkante ab und stürzte in die Wellen.
Rubin verging Hören und Sehen. Das Wasser aus dem Tank toste über ihn hinweg. Er fragte sich, was um Himmels willen passiert war in den letzten Sekunden. Alles war aus den Fugen geraten. Dann spürte er plötzlich, dass die wirbelnden Wassermassen das Regal von seinem Bein hoben, und er kam frei und tauchte prustend auf.
Gott sei Dank, dachte er. Du hast das Schlimmste überstanden.
Für eine richtige Überschwemmung würde das Wasser aus dem Simulator nicht reichen. Es war eine ganze Menge, aber sobald es sich im Raum verteilt hatte, würde es kaum höher als einen Meter stehen.
Er rieb sich die Augen.
Wo war Li?
Neben ihm trieb der Körper eines der Soldaten. Ein anderer stemmte sich weiter hinten benommen aus dem Wasser.
Li war fort.
Sie hatten ihn zurückgelassen.
Fassungslos saß Rubin im Wasser und starrte auf die verschlossene Tür. Allmählich klärten sich seine Gedanken. Er musste hier raus. Etwas in dem Schiff war in die Luft geflogen. Wahrscheinlich sanken sie schon. Wenn er nicht innerhalb der nächsten paar Minuten höhere Gefilde erreichte, drohten ihm ernsthafte Schwierigkeiten.
Er wollte aufstehen, als es um ihn herum zu leuchten begann.
Blitze zuckten.
Schlagartig wurde ihm bewusst, dass nicht nur Wasser aus dem Tank gelangt war! Er versuchte hochzukommen, glitt aus und stürzte zurück. Das Wasser spritzte auf. Rubin geriet mit dem Kopf unter die Oberfläche, paddelte mit den Händen und spürte Widerstand.
Glatt. Beweglich.
Lichtblitze erschienen vor seinen Augen, dann bekam er plötzlich keine Luft mehr, als die Gallerte begann, sein Gesicht zu überziehen. Wie irrsinnig zerrte Rubin daran, aber das Zeug war nicht zu packen. Er glitt daran ab, und wo er es in die Hände bekam, veränderte es augenblicklich seine Form oder löste sich einfach auf, und neues Gewebe kam hinterher.
Nein, dachte er. Nein, Nein!
Er öffnete den Mund und spürte, wie das Zeug hineinkroch. Das machte ihn vollends wahnsinnig. Ein dünner Ausläufer schlängelte sich seine Speiseröhre hinab, weitere drangen in seine Nasenlöcher. Er würgte, schlug wild um sich, bäumte sich auf, und plötzlich begannen seine Ohren zu schmerzen. Grauenhaft war dieser Schmerz, als bohre ein unbarmherziger Folterknecht mit Messern darin herum, und ein letzter, glasklarer Gedanke sagte ihm, dass die Gallerte auf dem Weg in seinen Schädel war.
Ob es pure Neugierde oder ein gezieltes Vorhaben des Organismus war, menschliche Hirne zu untersuchen, ob er gewohnheitsmäßig seit Jahrmillionen in alles kroch, was sich seiner Ansicht nach zu untersuchen lohnte, darüber hatte sich Rubin seit dem Unfall im Welldeck pausenlos Gedanken gemacht.
Jetzt machte er sich über gar nichts mehr Gedanken.
So friedlich. So ruhig.
Vanderbilt hatte das wahrscheinlich anders empfunden. Er hatte Angst gehabt. Sein Tod war grausam gewesen, und genau so hatte er sein sollen. Aber ohne Angst war es etwas völlig anderes.
Greywolf sank in die Tiefe.
Er hielt die Luft an. Trotz der schrecklichen Schmerzen in seinem Bauch wollte er so lange wie möglich die Luft anhalten. Nicht weil er glaubte, dass es sein Leben verlängern würde. Es war ein letzter Akt des Willens, ein Akt der Kontrolle. Er würde bestimmen, wann das Wasser in seine Lungen drang.
Licia war da unten. Alles, was er je gewollt hatte, was ihm wichtig gewesen war, befand sich unter Wasser. Eigentlich nur konsequent, dass er endlich diesen Weg ging. Es war überfällig.
Er sah einen schwarzen Schatten über sich hinwegziehen. Ein weiterer folgte. Die Tiere beachteten ihn nicht. Genau, dachte Greywolf, ich bin euer Freund. Ihr lasst mich in Ruhe. Natürlich wusste er, dass die Erklärung viel profaner war, dass ihn die Tiere schlicht übersahen. Diese Orcas waren niemandes Freund. Sie waren schon längst nicht mehr sie selbst, sondern wurden missbraucht von einer Rasse, die nicht weniger skrupellos vorging als der Mensch.
Aber auch das würde wieder in Ordnung kommen.
Irgendwann. Und der Graue Wolf würde ein Orca werden.
Konnte es einen schöneren letzten Gedanken geben?
Er atmete aus.