Er erörtert gerade das Wesen der Schizophrenie, der Krankheit Isabelles. Sein dunkles Gesicht ist von Eifer leicht gerötet. Er erklärt, wie Kranke dieser Art blitzartig, in Sekunden, von einer Persönlichkeit in die andere springen, und daß man sie in alten Zeiten als Seher und Heilige bezeichnet habe und in anderen als vom Teufel Besessene, vor denen das Volk abergläubischen Respekt hatte. Er philosophiert über die Gründe, und ich wundere mich plötzlich, woher er das alles weiß und warum er es als Krankheit bezeichnet. Könnte man es nicht ebensogut als einen besonderen Reichtum ansehen? Hat nicht jeder normale Mensch auch ein Dutzend Persönlichkeiten in sich? Und ist der Unterschied nicht nur der, daß der Gesunde sie unterdrückt und der Kranke sie freiläßt? Wer ist da krank?
Ich trete an den Tisch und trinke mein Glas aus. Bodendiek betrachtet mich wohlwollend; Wernicke so, wie man einen völlig uninteressanten Fall ansieht. Ich fühle zum erstenmal den Wein; ich fühle, daß er gut ist, in sich geschlossen, gereift und nicht lose. Er hat kein Chaos mehr in sich, denke ich. Er hat es verwandelt. Verwandelt in Harmonie. Aber verwandelt, nicht ersetzt. Er ist ihm nicht ausgewichen. Ich bin plötzlich, eine Sekunde lang, ohne Grund unsagbar glücklich. Man kann das also, denke ich. Man kann es verwandeln! Es ist nicht nur eins oder das andere. Es kann auch eins durch das andere sein.
Ein neuer blasser Schein wirft sich gegen das Fenster und erlischt. Der Doktor erhebt sich.»Es geht los. Ich muß zu den Geschlossenen hinüber.«
Die Geschlossenen sind die Kranken, die nie herauskommen. Sie bleiben eingeschlossen, bis sie sterben, in Zimmern mit festgeschraubten Möbeln, mit vergitterten Fenstern und mit Türen, die man nur von außen mit Schlüsseln öffnen kann. Sie sind in Käfigen wie gefährliche Raubtiere, und niemand spricht gerne von ihnen.
Wernicke sieht mich an.»Was ist mit Ihrer Lippe los?«
»Nichts. Ich habe mich im Traum gebissen.«
Bodendiek lacht. Die Tür öffnet sich, und die kleine Schwester bringt eine neue Flasche Wein herein, mit drei Gläsern dazu. Wernicke verläßt mit der Schwester das Zimmer. Bodendiek greift nach der Flasche und schenkt sich ein. Ich verstehe jetzt, warum er Wernicke angeboten hat, mit uns zu trinken; die Oberin hat daraufhin die neue Flasche geschickt. Eine allein wäre nicht genug für drei Männer. Dieser Schlauberger, denke ich. Er hat das Wunder der Speisung bei der Bergpredigt wiederholt. Aus einem Glas für Wernicke hat er eine ganze Flasche für sich gemacht.»Sie trinken wohl nicht mehr, wie?«fragt er.
»Doch!«erwidere ich und setze mich.»Ich bin auf den Geschmack gekommen. Sie haben ihn mir beigebracht. Danke herzlich.«
Bodendiek zieht mit einem sauersüßen Lächeln die Flasche wieder aus dem Eis. Er betrachtet das Etikett einen Augenblick, ehe er mir eingießt – ein viertel Glas. Sein eigenes schenkt er fast bis zum Rande voll. Ich nehme ihm ruhig die Flasche aus der Hand und gieße mein Glas nach, bis es ebenso gefüllt ist wie seines.»Herr Vikar«, sage ich.»In manchen Dingen sind wir gar nicht so verschieden.«
Bodendiek lacht plötzlich. Sein Gesicht entfaltet sich wie eine Pfingstrose.»Zum Wohle«, sagt er salbungsvoll.
Das Gewitter murrt und zieht hin und her. Wie lautlose Säbelhiebe fallen die Blitze. Ich sitze am Fenster meines Zimmers, die Fetzen aller Briefe Ernas vor mir in einem ausgehöhlten Elefantenfuß, den mir der Weltreisende Hans Ledermann, der Sohn des Schneidermeisters Ledermann, vor einem Jahr als Papierkorb geschenkt hat.
Ich bin fertig mit Erna. Ich habe mir alle ihre unangenehmen Eigenschaften aufgezählt; ich habe sie emotionell und menschlich in mir vernichtet und als Dessert ein paar Kapitel Schopenhauer und Nietzsche gelesen. Aber trotzdem möchte ich lieber, daß ich einen Smoking hätte, ein Auto und einen Chauffeur, und daß ich, begleitet von zwei bis drei bekannten Schauspielerinnen, einige Hundert Millionen in der Tasche, jetzt in der Roten Mühle auftauchen könnte, um der Schlange dort den Schlag ihres Lebens zu versetzen. Ich träume eine Zeitlang davon, wie es wäre, wenn sie morgen in der Zeitung lesen würde, ich hätte das große Los gewonnen oder wäre schwer verletzt worden, während ich Kinder aus brennenden Häusern gerettet hätte. Dann sehe ich Licht in Lisas Zimmer.
Sie öffnet es und macht Zeichen. Mein Zimmer ist dunkel, sie kann mich nicht sehen; also meint sie nicht mich. Sie sagt lautlos etwas, zeigt auf ihre Brust und dann auf unser Haus, und nickt. Darauf erlischt das Licht.
Ich beuge mich vorsichtig hinaus. Es ist zwölf Uhr nachts, und die Fenster rundum sind dunkel. Nur das von Georg Kroll ist offen.