Ich stehe in der Buchhandlung Arthur Bauers. Heute ist der Zahlungstag für die Nachhilfestunden, die ich seinem Sohn erteile. Arthur junior hat die Gelegenheit benützt, mir zur Begrüßung ein paar Heftzwecken auf meinen Stuhl zu legen. Ich hätte ihm dafür gerne sein Schafsgesicht in das Goldfischglas getunkt, das den Plüschsalon ziert, aber ich mußte mich beherrschen – Arthur junior weiß das.
»Also Yoga«, sagt Arthur senior jovial und schiebt mir einen Packen Bücher zu.»Ich habe Ihnen hier herausgelegt, was wir haben. Yoga, Buddhismus, Askese, Nabelschau – wollen Sie Fakir werden?«
Ich mustere ihn mißbilligend. Er ist klein, hat einen Spitzbart und flinke Augen. Noch ein Schütze heute, denke ich, der auf mein ramponiertes Herz anlegt! Aber dich billige Spottdrossel werde ich schon kriegen, du bist kein Georg! Scharf sage ich:»Was ist der Sinn des Lebens, Herr Bauer?«
Arthur sieht mich erwartungsvoll wie ein Pudel an.»Und?«
»Was, und?«
»Wo ist die Pointe? Sie erzählen doch einen Witz – oder nicht?«
»Nein«, erwidere ich kühl.»Dies ist eine Rundfrage zum Heile meiner jungen Seele. Ich stelle sie vielen Menschen, besonders solchen, die es wissen sollten.«
Arthur greift in seinen Bart wie in eine Harfe.»Sie fragen doch nicht im Ernst, an einem Montagnachmittag, mitten in der Hauptgeschäftszeit, so etwas Blödsinniges, und wollen auch noch eine Antwort darauf haben?«
»Doch«, sage ich.»Aber bekennen Sie nur gleich! Sie wissen es auch nicht! Sie, trotz aller Ihrer Bücher!«
Arthur gibt seinen Bart frei, um sich in den Locken zu wühlen.»Herrgott, was manche Menschen für Sorgen haben! Erörtern Sie die Sache doch in Ihrem Dichterklub!«
»Im Dichterklub gibt es nur poetische Verbrämungen dafür. Ich aber will die Wahrheit wissen. Wozu existiere ich sonst und bin kein Wurm?«
»Wahrheit!«Arthur meckert.»Das ist was für Pilatus! Mich geht das nichts an. Ich bin Buchhändler, Gatte und Vater, das genügt mir.«
Ich sehe den Buchhändler, Gatten und Vater an. Er hat einen Pickel rechts neben der Nase.»So, das genügt Ihnen«, sage ich schneidend.
»Das genügt«, erwidert Arthur fest.»Manchmal ist es schon zu viel.«
»Genügte es Ihnen auch, als Sie fünfundzwanzig Jahre alt waren?«
Arthur öffnet seine blauen Augen, so weit er kann.»Mit fünfundzwanzig? Nein. Damals wollte ich es noch werden.«
»Was?«frage ich hoffnungsvoll.»Ein Mensch?«
»Besitzer dieser Buchhandlung, Gatte und Vater. Mensch bin ich sowieso. Fakir noch nicht.«
Er schwänzelt nach diesem harmlosen zweiten Schuß eilig davon, einer Dame mit reichem Hängebusen entgegen, die einen Roman von Rudolf Herzog verlangt. Ich blättere flüchtig in den Büchern über das Glück der Askese und lege sie rasch beiseite. Tagsüber ist man zu diesen Dingen bedeutend weniger aufgelegt als nachts, allein, wenn einem nichts anderes übrigbleibt.
Ich gehe zu den Regalen mit den Werken über Religion und Philosophie. Sie sind Arthur Bauers Stolz. Er hat hier so ziemlich alles, was die Menschheit in ein paar tausend Jahren über den Sinn des Lebens zusammengedacht hat. Es müßte also möglich sein, für ein paar hunderttausend Mark ausreichend darüber informiert zu werden – eigentlich bereits für weniger, sagen wir für zwanzig- bis dreißigtausend Mark; denn wenn der Sinn des Lebens erkennbar wäre, sollte schon ein einziges Buch dazu genügen. Aber wo ist es? Ich blicke die Reihen hinauf und hinab. Die Abteilung ist sehr umfangreich, und das macht mich plötzlich stutzig. Es scheint mit der Wahrheit und dem Sinn des Lebens so zu sein, wie mit den Haarwässern – jede Firma preist ihres als das alleinseligmachende an – aber Georg Kroll, der sie alle probiert hat, hat trotzdem einen kahlen Kopf behalten, und er hätte es von Anfang an wissen sollen. Wenn es ein Haarwasser gäbe, das wirklich Haar wachsen ließe, gäbe es nur das eine, und die anderen wären längst pleite.
Bauer kommt zurück.»Na, was gefunden?«
»Nein.«
Er betrachtet die beiseite geschobenen Bände.»Also Fakir hat keinen Zweck, was?«
Ich weise den schlichten Witzbold nicht direkt zurecht.
»Bücher haben überhaupt keinen Zweck«, sage ich statt dessen.»Wenn man sieht, was hier alles geschrieben ist und wie es trotzdem in der Welt aussieht, sollte man nur noch die Speisekarte, im Walhalla und die Familiennachrichten im Tageblatt lesen.«
»Wieso?«fragt der Buchhändler, Gatte und Vater leicht erschreckt.»Lesen bildet, das weiß jeder.«
»Wirklich?«
»Natürlich! Wo blieben sonst wir Buchhändler?«
Arthur saust wieder davon. Ein Mann mit kurzgestutztem Schnurrbart verlangt das Werk»Im Felde unbesiegt«.
Es ist der große Schlager der Nachkriegszeit. Ein arbeitsloser General beweist darin, daß das deutsche Heer im Kriege bis zum Ende siegreich war.
Arthur verkauft die Geschenkausgabe in Leder mit Goldschnitt. Besänftigt durch das gute Geschäft kommt er zurück.»Wie wär’s mit etwas Klassischem? Antiquarisch natürlich!«