»Es ist sinnlos«, unterbrach sie Skar sanft. »Du solltest dir nicht selbst etwas vormachen. Wir bleiben, bis Del sich vollkommen erholt hat. Vielleicht warten wir auch den Winter ab, doch wir können nicht auf ewig hierbleiben. Weder ich noch Del.«
»Und warum nicht?« fragte Coar. Ihre Hände spielten nervös am Sattelknauf, und ihre Stimme bebte. »Du hast mir erzählt, wie es dort draußen ist. Krieg, Gewalt und Tod. Was reizt dich an einer solchen Welt? Was ist besser daran als an Went, an Cearn? Was lockt dich an diesem Leben?«
Skar lächelte traurig. Die Stille des Waldes schien sich plötzlich in seiner Umgebung zu verdichten, und für einen Moment fühlte er sich trotz all der Menschen um sich herum unendlich einsam und isoliert, eingesponnen in einen dichten, unsichtbaren Kokon aus Schwärze und Alleinsein.
»Vielleicht«, sagte er nach einer Weile, »weil es mein Leben ist, Coar. Ich gebe zu, daß Went ein Paradies ist, trotz der Hoger, aber . . .«
»Dann bleib hier!« sagte Coar flehend. »Du . . . du bist erst seit wenigen Tagen hier. Wie willst du wissen, ob es dir hier gefällt oder nicht? Du wirst hier alles finden, was du dir wünschst. Du wirst Ruhm erlangen, Macht, Reichtum –«
»Aber Enwor ist meine Heimat«, führte Skar den begonnenen Satz zu Ende.
Diesmal schwieg Coar.
Der Morgen dämmerte, als sie zurück nach Went kamen. Skar fühlte sich nach der durchwachten Nacht müde und fiebrig. Sein Rücken schmerzte, und seine Muskeln waren vom langen Reiten steif und verspannt. Er rieb sich mit Daumen und Zeigefinger über die Augen, legte die Hand in den Nacken und versuchte, seine schmerzenden Muskeln zu massieren. Es half nichts. Die Spannung blieb und schien im Gegenteil noch stärker zu werden. Thoranda hatte wohl recht – es würde noch Wochen dauern, bis er wieder im Vollbesitz seiner Kräfte war. Sie ritten durch das gleiche Tor wie beim ersten Mal nach Went hinein. Die Cearner begannen sich zu verteilen, um nach der anstrengenden Nacht zurück in ihre Quartiere zu gehen und noch ein paar Stunden zu schlafen.
»Was tust du jetzt?« fragte Coar, als Skar müde vom Pferd stieg und dem Tier einen freundschaftlichen Klaps auf das Hinterteil gab. Er hatte beobachtet, daß längst nicht alle Cearner ihre Tiere in einen der Ställe oder die große Koppel am westlichen Ende der Stadt zurückbrachten – die meisten ließen sie einfach laufen, als wüßten sie, daß die Tiere ihren Weg auch allein finden würden, und auch Coar schien an seinem Verhalten nichts Außergewöhnliches zu finden.
»Ich bin müde«, sagte er achselzuckend. »Ich denke, ich werde nach Del sehen und mich dann noch ein paar Stunden hinlegen und ausruhen. So viel wie hier habe ich in meinem ganzen Leben noch nicht geschlafen.«
»Wäre ich boshaft«, sagte Coar, »dann würde ich das jetzt so auffassen, daß du Went zum Einschlafen langweilig findest. Oder auch mich.« .
Skar grinste und unterdrückte ein Gähnen. »Im Gegenteil, Coar. Aber der Ritt war anstrengend, und ich bin noch nicht wieder bei Kräften. Auch ein Held«, versuchte er Thorandas Tonfall nachzumachen, »braucht von Zeit zu Zeit Erholung.« Er lächelte, half Coar aus dem Sattel und wurde übergangslos wieder ernst. Bestattet ihr eure Toten alle so?«
Dort draußen?« Coar nickte. »Ja. Normalerweise beerdigen wir ihre Körper, doch wenn dies nicht möglich ist, so reicht es auch, ihre Seelenknospen beizusetzen.«
»Seelen . . . was?« machte Skar.
»Trägt. . . jeder von euch einen solchen Samen in sich?« fragte Skar zögernd. Coar nickte und griff mit der Rechten unter ihre Brust. »Ja. Wir sind Geschöpfe des Waldes, Skar. Cearn ist unsere Mutter, und jeder, der hier geboren wird, trägt ein Stück von ihr in sich. Nicht immer ist es möglich, einem Toten die Ehre zuteil werden zu lassen, die ihm zukommt. Aber niemand von uns ist allein. Der Geist von Cearn ist bei ihm, ganz egal, wohin er geht. Es ist nur ein winziger Schnitt, von dem ein Neugeborenes kaum etwas merkt, und doch sichert es seiner Seele den Frieden mit Cearn, ganz egal, welches Schicksal ihm einst zuteil werden wird.«