Coar verneinte. »Um es mit deinen Worten auszudrücken«, antwortete sie nach kurzem Überlegen, »lauft ihr ihm den Rang ab. Del und du stehlt ihm die Schau. Bernec galt bisher als unser größter Krieger, und ich glaube, er war es wohl auch. Keiner kann so reiten und fechten und Bogen schießen wie er. Viele von uns – gerade die Jüngeren – sehen ihn ihm so eine Art Held, und ich fürchte fast, daß er sich in dieser Rolle gefallen hat. Er ist zu stolz, um es offen zuzugeben, aber es wird wohl so sein, daß er schlicht und einfach eifersüchtig auf euch ist.«
»Blödsinn«, sagte Skar impulsiv. »Nichts liegt mir ferner, als ihm den Rang streitig zu machen.«
»Ich weiß«, nickte Coar, »und Bernec weiß es auch. Aber manchmal läßt sich das, was man weiß, nicht mit dem, was man fühlt, in Einklang bringen. Er wird darüber hinwegkommen, früher oder später. Vielleicht«, sagte sie nachdenklich, »könnt ihr sogar Freunde werden, irgendwann. Warte, bis du ihn richtig kennst. Er wird dir gefallen. Ihr ähnelt euch in vielem.«
Skar bezweifelte das, zog es aber vor zu schweigen. Neid und Eifersucht waren Wesenszüge, die ihm fremd waren. Er hatte viele Männer getroffen, die ihm auf die eine oder andere Weise überlegen gewesen waren, aber er hatte selten deswegen so etwas wie Mißgunst in sich verspürt, und wenn doch, so hatte er das Gefühl stets mit aller Macht bekämpft.
»Du kennst ihn gut?« fragte er.
Coar zögerte merklich. »Ja«, sagte sie dann. »Went ist nicht groß. Wir kennen uns alle untereinander. In deiner Heimat mag das anders sein. Die Städte sind dort sicher so groß, daß man unmöglich alle Bewohner kennen kann.«
»Manche sicher«, sagte Skar. »Aber in vielen Städten kennen die Menschen nicht einmal ihre direkten Nachbarn. Es ist . . . nicht überall auf Enwor so wie hier bei euch.«
Coar sah ihn verblüfft an. »Aber wie kann das angehen?« fragte sie. »Ein Mensch, der seinen Nachbarn nicht kennt?«
Skar lachte leise, aber es klang unecht und bitter. »Enwor ist nicht Went«, wiederholte er. Er zügelte sein Pferd, sah Coar lange und nachdenklich an und fügte, leiser und sanfter, hinzu: »Ich habe auf dem Weg hierher über die Geschichte, die du mir erzählt hast, nachgedacht. Vorhin habe ich darüber gelacht, aber jetzt glaube ich fast, daß sie stimmt. Ich habe niemals Menschen getroffen, die so sanft und friedvoll sind wie ihr.«
Coar schien verwirrt, und auch Skar fragte sich unwillkürlich, warum er diese Worte überhaupt ausgesprochen hatte. Trotzdem spürte er, daß es die Wahrheit war. Er hatte nicht viel mehr als einen Tag bei Bewußtsein hier verbracht, aber er spürte schon jetzt, daß er niemals zuvor einem friedliebenderen und sanfteren Volk begegnet war. Es war eine Erkenntnis, die nicht vieler Worte oder langer Beobachtungen bedurfte. Selbst Logar und Bernec mit ihrer absichtlichen Ablehnung waren im Grunde gütige und weiche Menschen. Hier, isoliert von der Welt mit all ihren Kriegen und Fehden, schien sich ein winziger Rest jener alten Zeit erhalten zu haben, von der Legenden und Mythen berichteten, ein Artefakt aus einer Epoche, in der Frieden und Menschlichkeit regiert hatten statt Gewalt und Haß. Aus einer Epoche, fügte er in Gedanken hinzu, die vielleicht niemals existiert hatte.
»Aber das ist . . . unmöglich«, sagte Coar nach einer Weile »Du . . . du meinst, dort draußen herrsche ununterbrochen . . .?«
»Krieg«, nickte Skar. »Vielleicht nicht ununterbrochen, aber oft unterscheidet sich der Frieden nicht sehr von dem, was ihr unter Krieg verstehen mögt. Es . . . es tut mir leid, wenn ich deine Illusion zerstören muß, Coar, aber die Welt dort draußen ist nicht schön. Enwor ist hart. Hart und grausam.«
»Aber . . .«, stotterte Coar verwirrt, »du . . . du und Del . . .«
»Ich und Del wurden so, wie wir sind, weil die Welt so ist, wie sie ist«, fuhr Skar ruhig fort. »Dort draußen herrscht Gewalt, Coar, Gewalt und das älteste Recht der Welt, das des Stärkeren. Nur die Stärksten überleben, und selbst sie nicht immer. Enwor würde dir nicht gefallen. Ein Volk wie das eure könnte dort nicht überleben, Coar.« Er brach erschöpft ab. Die wenigen Worte schienen seine gesamte Kraft aufgebraucht zu haben, und er spürte erst jetzt so richtig, wie sehr ihn die Erlebnisse der letzten Tage aufgewühlt hatten. »Nun habe ich dir eine Geschichte erzählt«, sagte er abschließend, »aber ich fürchte, sie war nicht so schön wie deine.«
Coar sah verwirrt weg. »Das . . . macht nichts«, sagte sie stockend. »Vielleicht ist die Welt dort draußen wirklich so, wie du sie geschildert hast, vielleicht auch nicht. Es bleibt sich gleich. Ich werde sie nie kennenlernen, und du bist ihr entronnen. Du wirst hier Frieden finden.«
»Aber wir können nicht bleiben«, sagte er sanft.
»Ihr werdet einen Platz finden, an dem ihr leben könnt«, wiederholte sie, seine Worte ignorierend. »Du kannst Kommandant der Garde werden, oder du kannst nach Ipcearn gehen und dich in den Dienst der Könige stellen. Für einen Mann wie dich . . .«