Obwohl dies eine kaum verhüllte Drohung war, ließ der Tonfall es nicht als solche erscheinen. Es klang, als würde ihm, Hagen, die freie Wahl gelassen, in allen Ehren vor den König geführt oder ihm wie ein nasser Sack vor die Füße geworfen zu werden.
Hagens Stolz schmeichelte es, das man ihm die Wahl ließ und gleichzeitig seine Flucht zumindest für denkbar hielt. Fast, als fürchtete man ihn auch ein wenig. Er sah Mîm in die Augen, versuchte, deren Blick standzuhalten, und war selbst erstaunt, als es ihm gelang.
»Ich verspreche, nicht zu fliehen. Führt mich vor euren König«, sagte er mit fester Stimme. Dann lächelte er, und der Swart-alf erwiderte das Lächeln.
»Vorwärts!«, befahl Mîm. »Bringen wir diesen Knaben aus Midgard vor unseren Meister in die Hohe Halle.«
Die beiden Schwarzalben fielen links und rechts hinter Hagen in Schritt, während Mîm neben ihm ging.
Der Junge fühlte sich urplötzlich gar nicht mehr als Gefangener, sondern vielmehr wie ein Besucher, dem der Weg gewiesen wurde. Hoffnung keimte in ihm auf, dass alles doch nicht so schlimm werden würde, wie es zu Beginn ihres Abenteuers im Wald erschienen war.
Sie schritten durch ein verwirrendes Labyrinth von Gängen, Hallen, großen und kleinen Höhlen. Das fahle Licht wechselte ständig in seiner Intensität; mal wurde es stärker, dann wieder schwächer. Hagen konnte sehen, dass manche der Gänge keines natürlichen Ursprungs, sondern wie die Stollen eines Bergwerks aus dem Fels gemeißelt waren. Andere waren nur ein wenig erweitert worden, während es sich bei wieder andere tatsächlich um natürliche Öffnungen handelte, die den Berg durchzogen. Das Ausmaß dieser Höhlen war riesig, und es erstreckte sich nicht nur in die Breite, sondern auch in die Tiefe. Wie lange mochte es gedauert haben, dieses System von unterirdischen Wegen zu errichten? Jahrzehnte? Oder gar Jahrhunderte?
Selbst wenn er hätte fliehen wollen, Hagen hätte nicht den Hauch einer Chance gehabt. In welche Richtung sollte er sich auch wenden? Er hatte keine Ahnung, wo sich Ausgänge befanden. Ihm blieb also nichts anderes übrig, als sich der Führung der Swart-alfar anzuvertrauen.
»Sieh, Hagen«, riss ihn die Stimme Mîms aus seinen Gedanken.
Vor ihnen öffnete sich ein mächtiger Felsendom, eine natürliche Kuppel, die das Wasser ausgewaschen hatte. Im Zentrum des Doms erhob sich wie auf einem Podest ein einzelner, riesiger Kristall, der auf vielfältige Weise das fahle, kalte Licht der Wände brach und in allen Farben des Regenbogens funkelte.
Fasziniert, ja, ehrfurchtsvoll blickte Hagen auf dieses Schauspiel. Die Farben wandelten sich ständig, je nach Blickwinkel des Betrachters und dem Lichteinfall der Wasserkaskaden von den Wänden.
»Toll ...« Es klang irgendwie banal. Er hatte einige recht schöne Stellen in den Höhlen gesehen, aber dieses hier war ein Wunder.
»Ymirs Herz«, flüsterte Mîm, der unwillkürlich die Stimme gesenkt hatte, »nennen wir diesen Ort. Sein ist die Macht, die dies geschaffen hat!«
Hagen starrte wie gebannt auf das Farbenspiel und setzte nur noch mechanisch einen Fuß vor den anderen, so nahm ihn der Anblick gefangen. Ihn erfasste tiefes Bedauern, als Mîm ihn schließlich in einen Gang zog, der von dem Dom wegführte. Er warf einen letzten Blick zurück, dann hatten ihn die fahl ausgeleuchteten Gänge wieder.
»Wie weit ist es noch?«, fragte er.
»Wir sind noch eine Weile unterwegs ...«, entgegnete Mîm vage, als wolle er sich nicht festlegen.
»Was heißt das, eine Weile?«
»In diesen Höhlen gibt es keine geraden Wege. Vielleicht, wenn der Meister dich für würdig hält, wirst du Erklärungen erhalten. Ich darf dir nicht mehr sagen ...«
...
So führte ihr Marsch weiter durch die Höhlen. Hagen, der nun versuchte, auf den Weg zu achten, stellte fest, dass sie unentwegt die Richtung wechselten, sich wie durch ein Labyrinth bewegten. Manchmal stieg der Weg steil an; dann führte er wieder über teils natürliche, teils künstliche Treppen hinab in die Tiefe. Einmal traten sie aus einem Gang und Hagen blickte zurück und hatte den Eindruck, als ob sie nur etwa zehn oder fünfzehn Meter weiter vorher abgebogen wären, einen großen Umweg gemacht hätten und durch drei, vier andere Gänge gegangen wären, nur um diesem kurzen Stück auszuweichen.
Täuschte er sich? Nein, Hagen war sich ganz sicher, dass er sich nicht geirrt hatte. Warum taten sie das? Warum liefen sie hier kreuz und quer durch die Gänge?
Wollten sie verhindern, dass er sich an den Weg erinnerte? Oder steckte etwas anderes dahinter? In ihm klang noch einmal auf, was Mîm gesagt hatte: »...