Sie war noch immer zehn Jahre alt und noch immer ein wenig zu dünn und manchmal etwas linkisch in ihren Bewegungen und ihrer Art zu reden – aber sie war kein Kind mehr. Sie dachte an ihren Vater und ihre Mutter und Rosaro, ihren um zehn Jahre älteren Bruder, an ihr Haus, das nicht zu den prachtvollsten der Stadt gehört hatte, aber auch ganz und gar nicht zu den kleinsten, an ihre Freunde und Spielkameraden, und sie empfand – nichts.
Voller Schrecken begriff sie, daß sie ihre Fähigkeit zu trauern verloren hatte. Der Anblick der geschändeten Stadt erfüllte sie mit Entsetzen, aber es war ein Schrecken, der eher dem Erstaunen darüber entsprang, daß eine solch totale Zerstörung überhaupt
»Wie... sieht es aus?« sagte Gedelfi stockend. »Sag es mir, Talianna.«
Talianna gehorchte. Langsam, aber ohne zu stocken und mit überraschend klarer, fester Stimme beschrieb sie dem Blinden, was sie sah, jede noch so winzige Einzelheit; angefangen von der knöcheltiefen Staub- und Ascheschicht auf dem Boden über das verbrannte Mauerwerk, in das die Hitze bizarre Muster geätzt hatte, über die leeren Fenster und Türen, die wie ausgebrannte Augenhöhlen auf sie herabstarrten und die Straßen, die mit formlos zusammengeschmolzenen Dingen vollgestopft waren; das Wasser des Flusses, das jetzt schwarz war und brodelte und eine schreckliche Fracht mit sich trug, und die Brücke, die wie ein ausgestreckter Arm über den Fluß führte, erstaunlicherweise kaum beschädigt, bis zu der Stelle, an der sie zersplittert war, die geknickten Tragbalken und Streben gebrochenen Fingern gleich, die ins Leere griffen.
Gedelfi hörte schweigend zu. Nicht einmal sein Atem ging schneller, während Talianna ihm all die unbeschreiblichen Schrecknisse beschrieb, die sie sah, mit der klaren, präzisen Wortwahl einer Erwachsenen und der grausamen Detailfreude einer Zehnjährigen.
Erst, als sie zu Ende gekommen war und schwieg, löste sich die Hand des Blinden von ihrer Schulter, und wie sie es immer tat, wenn sie Gedelfis Berührung nicht mehr spürte, drehte sie sich zu ihm um und blickte ihn an.
Sie erschrak. Gedelfis Gesicht war ausdruckslos, aber es war jene Art von Beherrschtheit, hinter der sich pures Entsetzen verbarg. Seine Hände zitterten ganz leicht. Mit einem Male kam er ihr alt vor, unendlich
»So schlimm?« murmelte er.
Sie nickte. Dann, als ihr einfiel, daß er die Bewegung nicht spürte, weil seine Hand nicht auf ihrer Schulter lag, sagte sie: »Ja. Es ist nichts mehr übrig. Das Dorf ist ausgelöscht.«
Gedelfi schauderte ein wenig – von ihnen allen hatte er als erster gewußt, wie umfassend die Katastrophe war, die über das Dorf hereingebrochen sein mußte. Denn während sie zitternd und schreiend vor Angst in der Schwärze des Minenschachtes gelegen und nur ein dumpfes Grollen und Beben der Erde gespürt und dann und wann Laute gehört hatten, die zwar entsetzlich, aber ohne wirkliche Bedeutung gewesen waren, hatten ihm die übersensiblen Sinne eines Blinden deutlich gesagt, was wirklich geschah.
Und dann, mit einiger Verspätung, begriff Talianna, daß Gedelfis Schaudern
»Was ist das, Talianna?« fragte er. »Was geschieht mit dir?«
»Ich... verstehe nicht«, antwortete Talianna. »Was meinst du?«
Gedelfi antwortete nicht gleich. Er schwieg sogar eine ganze Weile, aber der Ausdruck von...
»Meine Eltern sind tot«, erinnerte Talianna. »Mein Heim ist verbrannt, meine Stadt ist zerstört, und fast alle, die ich gekannt habe, sind umgebracht worden.« Plötzlich bebte ihre Stimme vor Zorn, aber es war ein kalter, eisiger Zorn, der sie fast selbst ein bißchen schaudern ließ. »Jemand ist hierhergekommen und hat all diese Leute umgebracht, und er hat alles vernichtet, was sie aufgebaut haben, und hat –« Ihre Stimme versagte, nicht vor Schmerz, sondern einfach, weil ihr die Worte fehlten, so schnell, wie sie sie hervorsprudeln wollte. Sie atmete hörbar ein.
Gedelfi schüttelte den Kopf. Seine Augen waren weit und dunkel und genau auf ihr Gesicht gerichtet, fast, als könne er sie sehen. »So spricht kein Kind«, sagte er, sehr leise, aber auch sehr bestimmt.