Gedelfi sprach nicht weiter, sondern wandte den Kopf und starrte aus seinen erloschenen Augen zum Fluß hinab, und Talianna dachte sehr lange über das nach, was er ihr gesagt hatte. Sie maßte sich nicht an, zu urteilen, ob er nun weise oder einfach nur zu alt war – aber seine Worte hatten irgend etwas in ihr berührt, und vielleicht hatte
»Hast du gesehen, aus welcher Richtung sie kamen?« fragte Gedelfi plötzlich.
Talianna nickte. »Von Norden«, antwortete sie.
»Norden.« Gedelfi wiederholte das Wort, als wäre es die Bestätigung von etwas, das er längst gewußt hatte.
»Waren es viele?«
Talianna schüttelte den Kopf. »Nein. Zehn... vielleicht zwölf. Ich weiß es nicht. Es war zu dunkel. Ich... konnte nicht viel erkennen. Nur Schatten und dann das Feuer.«
Ihre Stimme versagte. Gedelfis Frage und ihre Antwort ließen die Bilder vom vergangenen Abend wieder vor ihren Augen erscheinen wie bizarre Impressionen eines Geschehens, von dem sie nur einen Bruchteil erkannt hatte: die fliegenden Kolosse, die mit absurder Leichtigkeit tief über die Hügelkette herangesegelt gekommen waren, die Schwingen weit gespreizt und reglos wie die aberwitzig großer Mauersegler, dann ein ungeheuerliches Schlagen und Rauschen und schließlich Feuer, Feuer,
»Sonst hast du nichts gesehen?« fragte Gedelfi. Sie
»Es waren... Reiter auf den Drachen«, antwortete sie.
»Reiter«, wiederholte Gedelfi. In seiner Stimme war keine Spur von Überraschung oder Unglauben. »Bist du sicher?«
»Ganz sicher«, sagte Talianna.
»Also doch«, murmelte Gedelfi. Talianna verstand nicht, was er damit sagen wollte, aber es war etwas in seiner Stimme, was sie frösteln ließ. Er atmete hörbar ein.
»Sag es niemandem, Talianna«, fuhr er dann leise fort.
»Hörst du? Niemandem. Ganz gleich, was geschieht. Das Beste wird sein, du vergißt es. Nicht nur für dich.« Das Nicken, mit dem Talianna auf seinen Rat antwortete, war zum Teil eine Lüge. Die Hälfte seiner Bitte würde sie erfüllen. Die andere nicht. Niemals.
3
Natürlich kam der Schmerz doch, später. Mit jeder Sekunde, die verging, wurde er ein ganz kleines bißchen heftiger, aber gleichzeitig – und ohne daß das eine das andere irgendwie beeinträchtigt hätte – nahm auch die betäubende Leere in ihrem Inneren zu. Der Tag verging, ohne daß sie hinterher genau zu sagen gewußt hätte, wie: Stunden, in denen sie reglos am Fluß saß und mit starrem Blick ins Leere sah, wechselten mit solchen voller hemmungslos fließender Tränen und qualvollem Schluchzen und Weinen ab. Gedelfi saß die ganze Zeit bei ihr, und obwohl ihr eine dünne boshafte Stimme zuflüsterte, daß der Blinde, hilflos wie er war, ja gar keine andere Wahl hatte, redete sie sich ein, daß er geblieben war, um sie zu trösten.
Irgendwann wurde es dunkel, und kurz darauf glomm nicht sehr weit hinter ihr ein Feuer auf. Seltsamerweise war es das Prasseln der Flammen, das sie aus ihrer dumpfen Trauer riß. Obwohl es ein Laut war, der sie mit Schrecken und neuer Panik hätte erfüllen müssen, erzeugte er nur Gedanken an Wärme und Geborgenheit und Schutz in ihr.
Sie stand auf, nahm Gedelfi behutsam an der Hand und half dem alten Mann beim Aufstehen; ein Unterfangen, das gar nicht so einfach war, denn Gedelfis alte Knochen waren steif geworden vom stundenlangen Sitzen. Talianna war sicher, daß ihm die Bewegung große Schmerzen bereitete, aber er erhob sich klaglos und folgte ihr, als sie auf das Feuer zuging, und die wenigen Schatten, die sich davor abzeichneten.