Kurz vor Teneriffa sichteten sie ein Seeungeheuer. In der Ferne, fast durchsichtig vor dem Horizont, hob sich ein Schlangenleib aus dem Wasser, bildete zwei ringförmige Verschlingungen und blickte mit im Fernrohr sehr deutlich erkennbaren Edelsteinaugen zu ihnen herüber. Um sein Maul hingen barthaardünne Fasern. Schon Sekunden nachdem es wieder untergetaucht war, glaubte jeder, er hätte es sich eingebildet. Vielleicht die Dünste, sagte Humboldt, oder das schlechte Essen. Er beschloß, nichts darüber aufzuschreiben.
Das Schiff ging zwei Tage vor Anker, um Vorräte aufzufrischen. Noch im Hafen wurden sie von einer Gruppe käuflicher Frauen umkreist, die nach ihnen faßten und lachend die Hände über ihre Körper wandern ließen. Bonpland wollte sich von einer mitziehen lassen, aber Humboldt rief ihn scharf zur Ordnung. Eine trat hinter ihn, zwei nackte Arme schlangen sich um seinen Hals, ihre Haare fielen über seine Schulter. Er wollte sich losreißen, doch einer ihrer Ohrreifen hatte sich in einer Spange seines Gehrocks verfangen. Alle Frauen lachten, Humboldt wußte nicht, wohin mit seinen Händen. Endlich sprang sie kichernd zurück, und auch Bonpland lächelte, aber als er Humboldts Miene sah, wurde er ernst.
Dort sei ein Vulkan, sagte Humboldt mit zitternder Stimme, die Zeit sei knapp, kein Grund zum Trödeln!
Sie engagierten zwei Führer und stiegen hinauf. Hinter einem Kastanienwald kamen Farne, dann eine sandige Ebene voll Ginster. Humboldt bestimmte nach der Methode Pascals ihre Höhe durch Messung des Luftdrucks. Sie übernachteten in einer noch mit Schnee gefüllten Höhle. Starr vor Kälte betteten sie sich in den Schutz des Eingangs. Der Mond stand klein und erfroren am Himmel, manchmal wehten Fledermäuse vorbei, der Schatten der Bergspitze lag scharf gezeichnet auf der Wolkendecke unter ihnen.
Ganz Teneriffa, erklärte Humboldt ihren Führern, sei ein einziger, aus dem Meer ragender Berg. Ob sie das nicht interessiere?
Um ehrlich zu sein, sagte einer von ihnen, nicht sehr.
Am nächsten Morgen stellten sie fest, daß auch die Führer den Weg nicht kannten. Humboldt fragte, ob sie denn nie hier oben gewesen seien.
Nein, sagte der andere Führer. Warum auch?
Das Schotterfeld um den Gipfel war kaum begeh-bar; jedesmal, wenn sie abrutschten, polterten Steine zu Tal. Einer der Führer verlor den Halt und zerbrach die Wasserflaschen. Durstig und an den Händen blutend, erklommen sie den Gipfel. Der Vulkantrichter war seit Jahrhunderten erkaltet, sein Boden mit versteinerter Lava bedeckt. Die Sicht reichte bis Palma, Gomera und zu den dunstumhangenen Bergen von Lanzarote. Während Humboldt mit Barometer und Sextant die Bergeshöhen prüfte, kauerten die Führer feindselig auf dem Boden, und Bonpland starrte frierend in die Ferne.
Halb verdurstet kamen sie am späten Nachmittag in die Gärten von Orotava. Benommen sah Humboldt die ersten Gewächse der Neuen Welt. Der Anblick einer haarigen Spinne, die sich auf einem Palmenstamm sonnte, erfüllte ihn mit Schrecken und Glück. Dann erst bemerkte er den Drachenbaum.
Er drehte sich um, doch Bonpland war verschwunden. Der Baum war riesenhaft und wohl Jahrtausende alt. Er war hier gewesen noch vor den Spaniern und vor den alten Völkern. Er war dagewesen vor Christus und Buddha, Platon und Tamerlan. Humboldt horchte an seiner Uhr. Wie sie, tickend, die Zeit in sich trug, so wehrte dieser Baum die Zeit ab: eine Klippe, an der ihr Fluß sich brach. Humboldt berührte den schrundigen Stamm. Weit droben liefen die Äste auseinander, das Zwitschern Hunderter Vögel durchdrang die Luft. Zärtlich strich er über die Rinde. Alles starb, alle Menschen, alle Tiere, immerzu. Nur einer nicht. Er legte seine Wange ans Holz, dann wich er zurück und sah erschrocken um sich, ob ihn jemand gesehen hatte. Schnell wischte er die Tränen weg und machte sich auf die Suche nach Bonpland.
Der Franzose? Ein Fischer beim Hafen zeigte auf eine Holzhütte.
Humboldt öffnete die Tür und sah Bonplands nackten Rücken über einer braunen, nackten Frau. Er schlug die Tür zu, ging eilig zum Schiff, blieb nicht stehen, als er Bonplands Laufschritt hinter sich hörte, und wurde auch nicht langsamer, als Bonpland, das Hemd über die Schulter geworfen, die Hose noch über dem Arm, atemlos um Verzeihung bat.
Wenn so etwas noch einmal vorfalle, sagte Humboldt, betrachte er die Zusammenarbeit als beendet.
Also bitte, keuchte Bonpland, während er im Laufen sein Hemd anzog. Manchmal überkomme es einen, sei das so schwer zu verstehen? Humboldt sei doch auch ein Mann!
Humboldt forderte ihn auf, an seine Verlobte zu denken.
Habe er nicht, sagte Bonpland und stieg in seine Hose. Er habe niemanden!
Der Mensch sei kein Tier, sagte Humboldt.
Manchmal doch, sagte Bonpland.
Humboldt fragte, ob er nie Kant gelesen habe.
Ein Franzose lese keine Ausländer.
Er wolle das nicht diskutieren, sagte Humboldt. Noch einmal so etwas, und ihre Wege würden sich trennen. Ob er das akzeptieren könne?
Großer Gott, sagte Bonpland.
Ob er das akzeptieren könne?