Lilly war die beste Freundin Rosas. Sie hatte eine glänzende Karriere hinter sich. Sie war das gewesen, was die unerreichbare Sehnsucht jeder kleinen Hure ist: eine Hotelfrau. Eine Hotelfrau geht nicht auf den Straßenstrich – sie wohnt im Hotel und macht da ihre Bekanntschaften. Fast alle Huren kommen nicht dazu – sie haben nicht genug Garderobe und auch nie genug Geld, um einmal eine Zeitlang auf Freier warten zu können. Lilly hatte zwar nur in Provinzhotels gelebt; aber sie hatte doch im Laufe der Jahre fast viertausend Mark gespart. Jetzt wollte sie heiraten. Ihr künftiger Mann betrieb ein kleines Installationsgeschäft. Er wußte alles von ihr, und es war ihm gleichgültig. Für die Zukunft konnte er unbesorgt sein; wenn eines dieser Mädchen heiratete, war es zuverlässig. Sie kannten den Rummel und hatten genug davon. Sie waren treu.
Lilly sollte Montag heiraten. Heute gab Rosa ihr einen Abschiedskaffee. Alle waren dazu erschienen, um noch einmal mit Lilly zusammen zu sein. Nach ihrer Hochzeit konnte sie nicht mehr hierher kommen.
Rosa schenkte mir eine Tasse Kaffee ein. Alois trabte mit einem riesigen Napfkuchen herbei, der gespickt war mit Rosinen, Mandeln und grüner Sukkade. Sie legte mir ein mächtiges Stück davon auf. Ich wußte, was ich zu tun hatte. Kennerisch probierte ich einen Bissen und markierte gewaltiges Erstaunen.»Donnerwetter, der ist aber bestimmt nicht im Laden gekauft…«
»Selbstgebacken«, sagte Rosa glücklich. Sie war eine fabelhafte Köchin und hatte gern, wenn man es anerkannte. Besonders in Gulasch und Napfkuchen war sie unerreicht. Sie war nicht umsonst eine Böhmin.
Ich blickte mich um. Da saßen sie rings um den Tisch, die Arbeiterinnen im Weinberge Gottes, die untrüglichen Menschenkennerinnen, die Soldaten der Liebe – Wally, die Schöne, der man neulich bei einer nächtlichen Autofahrt den Weißfuchs gestohlen hatte; – Lina mit dem Holzbein, die immer noch Liebhaber fand; – Fritzi, das Luder, die den plattfüßigen Alois liebte, obschon sie längst eine eigene Wohnung hätte haben können und einen Freund, der sie aushielt; – Margot mit den roten Backen, die immer in Dienstmädchentracht ging und damit elegante Freier fing; – Marion, die jüngste, strahlend und unbedenklich; – Kiki, der als Mann nicht mitzählte, weil er Frauenkleider trug und geschminkt war; – Mimi, das arme Biest, dem das Laufen mit seinen fünfundvierzig Jahren und den Krampfadern immer schwerer fiel; – ein paar Barfrauen und Tischdamen, die ich nicht kannte; – und endlich, als zweiter Ehrengast, klein, grau und verschrumpelt wie ein Winterapfel, Muttchen, die Vertraute aller, Trost und Stütze nächtlicher Wanderer, Muttchen mit dem Wurstkessel von der Ecke Nikolaistraße, fliegendes Büfett und Wechselbüro nachts, die neben ihren Frankfurter Würstchen auch noch heimlich Zigaretten und Gummiartikel verkaufte und angepumpt werden konnte.
Ich wußte, was sich schickte. Kein Wort von Geschäft, keine unzarte Andeutung heute – vergessen die wunderbare Leistung Rosas, die ihr den Beinamen das»Eiserne Pferd«eingetragen hatte; – vergessen Fritzis Unterhaltungen mit dem Viehhändler Stefan Grigoleit über die Liebe; – vergessen Kikis Tänze um den Salzbrezelkorb im Morgengrauen. Die Unterhaltung hier konnte jedem Damenkränzchen Ehre machen.
»Alles schon vorbereitet, Lilly?«fragte ich.
Sie nickte.»Die Aussteuer hatte ich ja schon lange.«
»Wunderbare Aussteuer«, sagte Rosa.»Fehlt aber auch nicht ein Spitzendeckchen.«
»Wozu braucht man denn Spitzendeckchen?«fragte ich.
»Na hör mal, Robby!«Rosa sah mich so vorwurfsvoll an, daß ich rasch erklärte, ich wüßte es schon. Spitzendecken – gehäkelte Möbelschoner, natürlich, sie waren das Symbol kleinbürgerlicher Behaglichkeit, das geheiligte Symbol der Ehe, des verlorenen Paradies. Sie waren ja alle keine Huren aus Temperament; sie waren Gescheiterte der bürgerlichen Existenz. Ihre geheime Sehnsucht war das Ehebett; nicht das Laster. Aber das hätten sie nie eingestanden.
Ich setzte mich ans Klavier. Rosa hatte schon darauf gewartet. Sie liebte Musik wie alle diese Mädchen. Ich spielte zum Abschied noch einmal alle ihre und Lillys Lieblingsschlager. Zu Anfang das»Gebet einer Jungfrau«. Der Titel war zwar nicht ganz angebracht für das Lokal, aber es war auch nur ein Bravourstück mit viel Geklimper. Dann folgte»Der Vöglein Abendlied«, das»Alpenglühen«,»Wenn die Liebe stirbt«,»Die Millionen des Harlekin«und zum Schluß»Nach der Heimat möcht' ich wieder«. Das liebte Rosa besonders. Huren sind ja das Härteste und Sentimentalste zugleich. Alle sangen es mit. Der schwule Kiki die zweite Stimme.
Lilly brach auf. Sie mußte ihren Bräutigam abholen. Rosa küßte sie herzhaft ab.»Mach's gut, Lilly. Laß dich nicht unterkriegen!«
Beladen mit Geschenken ging sie davon. Weiß der Henker, sie hatte ein ganz anderes Gesicht als früher. Die harten Linien, die sich bei jedem eingraben, der mit der menschlichen Gemeinheit zu tun hat, waren weggewischt; das Gesicht war weicher geworden, es hatte wahrhaftig wieder etwas von einem jungen Mädchen.