»Unsinn«, erklärte Grau,»ich lebe vom Schuldbewußtsein. Pietät ist nichts als Schuldbewußtsein. Man will sich rechtfertigen für das, was man dem lieben Verstorbenen bei Lebzeiten alles gewünscht und angetan hat.«Er fuhr sich mit der Hand langsam über den glühenden Schädel.»Was meinst du, wie oft mein Gastwirt seiner Tante den Tod an den Hals gewünscht hat – dafür läßt er sie jetzt in den feinsten Farben malen und hängt sie übers Sofa. So ist sie ihm lieber. Pietät! Der Mensch erinnert sich seiner spärlichen guten Eigenschaften immer erst, wenn es zu spät ist. Dann ist er gerührt darüber, wie edel er hätte sein können, und hält sich für tugendhaft. Tugend, Güte, Edelmut«- er winkte mit seiner mächtigen Pratze ab -,»die wünscht man sich bei andern, damit man sie hereinlegen kann.«
Lenz grinste.»Du rüttelst an den Grundpfeilern der menschlichen Gesellschaft, Ferdinand!«
»Die Grundpfeiler der menschlichen Gesellschaft sind Habgier, Angst und Korruption«, gab Grau zurück.»Der Mensch ist böse, aber er liebt das Gute – wenn andere es tun.«- Er hielt Lenz sein Glas hin.»So, und nun schenk mir ein und rede nicht den ganzen Abend – laß auch mal andere Leute zu Wort kommen.«
Ich kletterte über das Sofa zu Köster hinüber. Mir war plötzlich etwas eingefallen.»Otto, du mußt mir mal einen Gefallen tun. Ich brauche morgen abend den Cadillac.«
Braumüller unterbrach das intensive Studium einer wenig bekleideten kreolischen Tänzerin.»Kannst du denn schon Kurven fahren?«erkundigte er sich.»Ich dachte bis jetzt, du könntest nur geradeaus fahren, wenn ein anderer für dich steuert.«
»Sei du ruhig, Theo«, erwiderte ich,»aus dir werden wir beim Rennen am Sechsten schon Hackfleisch machen.«
Braumüller gluckste vor Lachen.»Also wie ist das, Otto?«fragte ich gespannt.
»Der Wagen ist nicht versichert, Robby«, sagte Köster.
»Ich werde wie eine Schnecke schleichen und wie ein Omnibus hupen. Nur ein paar Kilometer in der Stadt.«
Otto schloß die Augen bis auf einen kleinen Spalt und lächelte.»Gut, Robby; meinetwegen.«
»Brauchst du den Wagen vielleicht zu deiner neuen Krawatte?«fragte Lenz, der herangekommen war.
»Halt den Schnabel«, sagte ich und schob ihn beiseite.
Aber er ließ nicht locker.»Zeig mal her, Baby!«Er befühlte die Seide.»Herrlich. Unser Kind als Gigolo. Mir scheint, du willst auf Brautschau!«
»Du kannst mich heute nicht beleidigen, du Verwandlungskünstler«, erwiderte ich.
»Brautschau?«Ferdinand Grau hob den Kopf.»Warum soll er denn nicht auf Brautschau gehen?«Er wurde lebhafter und wandte sich mir zu.»Tu's ruhig, Robby! Du hast noch das Zeug dazu. Zur Liebe gehört eine gewisse Einfalt. Die hast du. Bewahre sie dir. Sie ist ein Gottesgeschenk. Nie wieder zu kriegen, wenn man sie mal verloren hat.«
»Nimm dir's nicht allzusehr zu Herzen«, grinste Lenz.»Dumm geboren zu werden ist keine Schande. Nur dumm zu sterben.«
»Schweig, Gottfried.«Grau wischte ihn mit einer Bewegung seiner mächtigen Tatze beiseite.»Auf dich kommt's nicht an, du Etappenromantiker. Um dich ist's nicht schade.«
»Sprich dich nur ruhig aus, Ferdinand«, sagte Lenz.»Aussprechen erleichtert immer.«
»Du bist ein Drückeberger«, erklärte Grau,»ein pathetischer Drückeberger.«
»Sind wir alle«, grinste Lenz.»Wir leben nur noch von Illusionen und Krediten.«
»Jawohl«, sagte Grau und sah uns der Reihe nach unter seinen buschigen Augenbrauen hervor an.»Von Illusionen aus der Vergangenheit und Krediten auf die Zukunft.«Dann wandte er sich mir wieder zu.»Einfalt habe ich gesagt, Robby. Nur neidische Leute nennen es Dummheit. Kränke dich nicht deswegen. Es ist kein Fehler, sondern eine Begabung.«
Lenz wollte etwas einwerfen. Aber Ferdinand sprach schon weiter.»Du weißt, was ich meine. Ein einfaches Gemüt, noch nicht zerfressen von Skepsis und Überintelligenz. Parzival war dumm. Wäre er klug gewesen, hätte er nie den heiligen Gral erobert. Nur wer dumm ist, siegt im Leben; der andere sieht viel zu viele Hindernisse und wird unsicher, ehe er beginnt. In schwierigen Zeiten ist Einfalt das kostbarste Gut – ein Zaubermantel, der Gefahren verbirgt, in die der Superkluge wie hypnotisiert hineinrennt.«
Er trank einen Schluck und sah mich mit seinen riesigen blauen Augen an, die wie ein Stück Himmel in dem zerklüfteten Gesicht saßen.»Nie zuviel wissen wollen, Robby! Je weniger man weiß, desto einfacher ist es, zu leben. Wissen macht frei – aber unglücklich. Komm, trink mit mir auf die Einfalt, die Dummheit und was zu ihr gehört – auf die Liebe, den Glauben an die Zukunft, die Träume vom Glück -, auf die herrliche Dummheit, das verlorene Paradies…«