Zusammenfassung
Der Titel "Wohin fuhr Odysseus?" mag eben so provozierend wie banal klingen. Die geographischen Hintergrunde der Wanderungen des Odysseus, des Herakles, der Argonauten und anderer Heroen regten die Phantasie zahlreicher Fachleute und Dilettanten seit der Antike an. Es scheint, dass nur ein Faulenzer keine Karte von den Wanderungen des Odysseus zeichnete. Nichtsdestotrotz ist dieses Problem unerschopflich, wie die soliden Bucher der letzten Zeit von zwei Althistorikern — von Heinz Warnecke (Homers Wilder Westen. Die historisch-geographische Wiedergeburt der Odyssee. Stuttgart, 2008) und von Armin Wolf (Homers Reise. Auf Spuren des Odysseus. Koln; Weimar; Wien, 2009) — plastisch vor Augen fuhren. Im Buch von Armin Wolf werden uber 100 Versionen der Irrfahrten des Odysseus analysiert, die von der Antike bis in jungste Gegenwart vorgeschlagen worden sind. Mein Ehrgeiz ist es nicht, Antwort auf die ewige Frage — Wohin fuhr Odysseus? — zu finden; wir erinnern uns an die sarkastische Bemerkung des Eratosthenes: "Die Wege des Odysseus werde man so wenig finden wie den Mann, der den Windschlauch des Aiolos angefertigt habe" (
Mein Ziel ist bescheidener: Ich mochte die Aufmerksamkeit auf einige Elemente des Weltbildes der archaischen Griechen lenken, die vielleicht manche Widerspruche in den geographischen Beschreibungen Homers, der Autoren der Argonauten-Fahrt und der Mythographen aufklaren konnten. Gerade die Helden dieser Legenden unternahmen (wenn auch nur in der Phantasie der Griechen) Weltreisen, die die verschiedensten Lander und Meere beruhrten. Deshalb spiegeln sich gerade in den Beschreibungen dieser Reisen die Kernelemente der geographischen Vorstellungen antiker Autoren wider.
Es ist bekannt, dass der Gesichtskreis der archaischen Griechen sehr eng war. Das Agaische Meer, umgeben von Kleinasien im Osten, Thrakien im Norden, Sizilien im Westen sowie Kreta und Agypten im Suden, als auch das Ionische und Sizilianische Meer — das war der Raum, in welchem die Griechen der archaischen Zeit lebten und reisten und wo die griechische Helden, wie Odysseus, die Argonauten, Herakles und Io wandern sollten. Dabei wurde die Oikumene als Insel, die der Fluss "Ozean" umkreist, wahrgenommen. Dieser Ozean war mit dem Mittelmeer durch Meerengen und Flusse verbunden, da die homerischen Griechen dachten, dass alle Gewasser (Meere, Flusse, Quellen) Kinder des Ozeans seien.
Aus diesen zwei gut argumentierten Thesen folgt logischerweise die Dritte: in dieser Situation bilden die inneren Meerengen die Grenzen der Welt, welche Ausgange in den Ameren Ozean sind und den Ozean mit dem Mittelmeer verbinden. Das sind der Bosporus und der Hellespont (WasserstraBe zum Schwarzem Meer), die Straβe von Messina und die Sizilianische Meerenge zwischen Afrika und Sizilien (Seeweg zum westlichen Teil des Mittelmeeres) und die Straβe von Otranto zwischen dem Ionischen und dem Adriatischen Meer. Besonders klar sieht man es hinsichtlich des Schwarzen Meeres, das damals unbekannt und als Teil des Ozeans angesehen wurde. Bei Strabo (I, 2, 10) heiβt es: "in der Homerzeit dachte man, dass das Pontische [Schwarze] Meer etwas wie der zweite Ozean ist und die da Reisenden weit uber die Grenze der Oikumene ausgegangen sind gleich denen, die weit hinter Gibraltar reisen."