»Doch. Aber…« Der Geiger zerdrückte nervös eine Zigarette. »So kann man doch nicht leben! So ohne alles! Ohne Boden unter den Füßen!«
»Mein Gott!« sagte Kern. »Sie haben einen Paß, und Sie haben Ihre Geige…«
Der Geiger blickte auf. »Das hat doch nichts damit zu tun«, erwiderte er gereizt. »Begreifen Sie das nicht?«
»Doch.«
Kern war maßlos enttäuscht. Er hatte geglaubt, wer so spielen konnte, müßte etwas Besonderes sein. Jemand, von dem etwas zu lernen war. Und nun sah er einen verbitterten Menschen da sitzen, der ihm, obwohl er sicher fünfzehn Jahre älter war als er, vorkam wie ein eigensinniges Kind. Erstes Stadium der Emigration, dachte er. Wird schon still werden.
»Essen Sie Ihre Suppe wirklich nicht?« fragte er.
»Nein.«
»Dann geben Sie sie mir. Ich bin noch hungrig.«
Der Geiger schob sie ihm hin. Kern aß sie langsam auf. Jeder Löffel voll war Kraft, dem Elend zu widerstehen, und er wollte nichts davon verlieren. Dann stand er auf. »Ich danke Ihnen für die Suppe. Ich hätte lieber gehabt, Sie hätten sie selbst gegessen.«
Der Geiger sah ihn an. Sein Gesicht war von Falten zerrissen. »Das verstehen Sie noch nicht«, sagte er ablehnend.
»Das ist leichter zu verstehen, als Sie glauben«, erwiderte Kern. »Sie sind unglücklich, weiter nichts.«
»Weiter nichts?«
»Nein. Man meint anfangs, es sei etwas Besonderes. Aber Sie werden es schon merken, wenn Sie länger draußen sind. Unglück ist das Alltäglichste, was es gibt.«
Er ging hinaus. Zu seiner Verwunderung sah er draußen, auf der andern Seite der Straße, den Professor hin- und herwandern. Er hatte die charakteristische Haltung, die Hände auf dem Rücken, den Körper etwas vorgebeugt, die er annahm, wenn er vor dem Katheder auf- und abschritt, um irgendeine neue verwickelte Entdeckung auf dem Gebiet der Krebsforschung zu erläutern. Nur, daß er jetzt vielleicht an Staubsauger und Grammophone dachte.
Kern zögerte eine Sekunde. Er hätte den Professor nie angesprochen. Doch jetzt, nachdem er den Geiger gesehen hatte, ging er zu ihm hinüber.
»Herr Professor«, sagte er,»entschuldigen Sie, daß ich Sie anspreche. Ich hätte nicht geglaubt, daß ich Ihnen jemals einen Rat geben könnte. Aber jetzt möchte ich es tun.«
Der Professor blieb stehen. »Gerne«, erwiderte er zerstreut. »Sehr gerne. Ich bin für jeden Rat dankbar. Wie war doch Ihr Name?«
»Kern. Ludwig Kern.«
»Ich bin für jeden Rat dankbar, Herr Kern. Ganz außerordentlich dankbar, wirklich!«
»Es ist kaum ein Rat. Nur etwas Erfahrung. Sie versuchen, Staubsauger und Grammophone zu verkaufen. Lassen Sie es. Es ist Zeitverschwendung. Hunderte von Emigranten versuchen das hier. Es ist ebenso sinnlos, wie Lebensversicherungen abschließen zu wollen.«
»Das wollte ich gerade nächstens versuchen«, unterbrach ihn der Professor lebhaft. »Jemand hat mir gesagt, es wäre leicht, und es wäre etwas damit zu verdienen.«
»Er hat Ihnen eine Provision für jeden Abschluß angeboten, nicht wahr?«
»Ja, natürlich, eine gute Provision.«
»Aber sonst nichts? Keine Spesen und kein Fixum?«
»Nein, das nicht.«
»Das kann ich Ihnen auch anbieten. Es bedeutet gar nichts. Herr Professor, haben Sie schon einen Staubsauger verkauft? Oder ein Grammophon?«
Der Professor sah hilflos auf. »Nein«, sagte er sonderbar beschämt,»aber ich hoffe, in der nächsten Zeit…«
»Geben Sie es auf«, erwiderte Kern. »Das ist mein Rat. Kaufen Sie eine Handvoll Schnürsenkel. Oder ein paar Büchsen Stiefelwichse. Oder einige Pakete Sicherheitsnadeln. Kleine Sachen, die jeder brauchen kann. Handeln Sie damit. Sie werden nicht viel daran verdienen. Aber Sie werden ab und zu etwas verkaufen. Auch damit handeln Hunderte von Emigranten. Aber man verkauft Sicherheitsnadeln leichter als Staubsauger.«
Der Professor blickte ihn nachdenklich an. »Daran habe ich noch gar nicht gedacht.«
Kern lächelte verlegen. »Das glaube ich. Aber überlegen Sie es einmal. Es ist besser. Ich weiß es. Ich habe früher auch Staubsauger verkaufen wollen.«
»Vielleicht haben Sie recht.« Der Professor reichte ihm die Hand. »Ich danke Ihnen. Sie sind sehr freundlich…« Seine Stimme war plötzlich sonderbar leise und fast unterwürfig, als wäre er ein Schüler, der schlecht gelernt hatte.
Kern biß sich auf die Lippen. »Ich war in jeder Ihrer Vorlesungen…«, sagte er.
»Ja, ja…« Der Professor machte eine flatternde Geste. »Ich danke Ihnen, Herr… Herr…«
»Kern. Aber es ist nicht wichtig.«
»Doch, es ist wichtig, Herr Kern. Entschuldigen Sie bitte. Ich bin etwas vergeßlich in der letzten Zeit. Und haben Sie vielen Dank. Ich glaube, ich werde es versuchen, Herr Kern.«
DAS HOTEL BRISTOL war ein baufälliger, kleiner Kasten, der von der Flüchtlingshilfe gemietet worden war. Kern bekam ein Bett in einem Zimmer angewiesen, in dem zwei andere Flüchtlinge wohnten. Er war nach dem Essen sehr müde geworden und legte sich gleich schlafen. Die beiden andern waren noch nicht da, und er hörte auch nicht, daß sie kamen.