»Doch, doch…« Der Wachmann war sichtlich eingeschüchtert. »Sie können sich natürlich selbst verköstigen, mein Herr! Das ist Ihr Recht. Wenn Sie bezahlen wollen, kann der Kalfaktor Ihnen ein Gulasch holen…«
»Endlich ein vernünftiges Wort!« Die Haltung des Blonden milderte sich.
»Und vielleicht ein Bier dazu…«
Der Blonde sah den Wachmann an. »Sie gefallen mir! Ich werde mich für Sie verwenden! Wie ist Ihr Name?«
»Rudolf Egger.«
»Recht so! Weitermachen!« Der Student zog Geld aus der Tasche und gab es dem Kalfaktor. »Zwei Rindsgulasch mit Erdäpfeln. Eine Flasche Zwetschgenwasser…«
Der Wachmann Rudolf Egger öffnete den Mund. »Alkoholische…«
»Sind erlaubt«, vollendete der Blonde. »Zwei Flaschen Bier, eine für die Wachleute, eine für uns!«
»Danke vielmals, küß’ die Hand!« sagte Rudolf Egger.
»Wenn das Bier nicht frisch und eiskalt ist«, erklärte der Sohn des Senatspräsidenten dem Kalfaktor,»säge ich dir einen Fuß ab. Wenn es gut ist, behältst du den Rest des Geldes.«
Der Kalfaktor verzog fröhlich das Gesicht. »Werd’s schon machen, Herr Graf!« Er strahlte. »So was von einem echten, goldenen Wiener Humor!«
Das Essen kam. Der Student lud Kern ein. Der wollte anfangs nicht. Er sah die Juden mit ernsten Gesichtern das Spülwasser essen. »Seien Sie ein Verräter! Das ist modern!« ermunterte ihn der Student. »Und außerdem ist das hier ein Essen unter Kartenspielern.«
Kern setzte sich nieder. Das Gulasch war gut, und schließlich hatte er keinen Paß und war zudem ein Mischling.
»Weiß Ihr Vater, daß Sie hier sind?« fragte er.
»Lieber Gott!« Der Blonde lachte. »Mein Vater! Der hat ein Weißwarengeschäft in Linz.«
Kern sah ihn überrascht an.
»Mein Lieber«, sagte der Student ruhig. »Sie scheinen noch nicht zu wissen, daß wir im Zeitalter des Bluffs leben. Die Demokratie ist durch die Demagogie abgelöst worden. Eine natürliche Folge. Prost!«
Er entkorkte das Zwetschgenwasser und bot dem Studenten mit der Brille ein Glas an.
»Danke, ich trinke nicht«, erwiderte der verlegen.
»Natürlich! Hätte ich mir denken können!« Der Blonde kippte das Glas selbst herunter. »Schon deshalb werden die andern euch ewig verfolgen! Wie ist es mit uns beiden, Kern? Wollen wir die Flasche leermachen?«-»Ja.«
Sie tranken die Flasche aus. Dann legten sie sich auf die Pritschen. Kern glaubte, er könne schlafen. Aber er wachte alle Augenblicke wieder auf. Verdammt, was haben sie mit Ruth gemacht, dachte er. Und wie lange werden sie mich hier einsperren?
Er bekam zwei Monate Gefängnis. Körperverletzung, Aufruhr, Widerstand gegen die Staatsgewalt, wiederholter, illegaler Aufenthalt – er wunderte sich, daß er nicht zehn Jahre bekam.
Er verabschiedete sich von dem Blonden, der um dieselbe Zeit freigelassen wurde. Dann führte man ihn nach unten. Er mußte seine Sachen abgeben und erhielt Gefängniskleidung. Während er unter der Dusche stand, fiel ihm ein, daß es ihn einmal bedrückt hatte, als man ihm Handschellen anlegte. Es schien ihm endlos lange her zu sein. Jetzt fand er die Gefängniskleidung nur praktisch; er schonte so seine Privatsachen.
Seine Mitgefangenen waren ein Dieb, ein kleiner Defraudant und ein russischer Professor aus Kasan, der als Landstreicher eingesperrt worden war. Alle vier arbeiteten in der Schneiderei des Gefängnisses.
Der erste Abend war schlimm. Kern erinnerte sich an das, was Steiner ihm damals gesagt hatte – daß er sich gewöhnen werde. Aber er saß trotzdem auf seiner Pritsche und starrte gegen die Wand.
»Sprechen Sie Französisch?« fragte ihn der Professor plötzlich von seiner Pritsche her.
Kern schreckte auf. »Nein.«
»Wollen Sie es lernen?«
»Ja. Wir können gleich anfangen.«
Der Professor stand auf. »Man muß sich beschäftigen, wissen Sie! Sonst fressen einen die Gedanken auf.«
»Ja.« Kern nickte. »Ich kann es außerdem gut gebrauchen. Ich werde wohl nach Frankreich müssen, wenn ich ’rauskomme.«
Sie setzten sich nebeneinander auf die Ecke der unteren Pritsche. Über ihnen rumorte der Defraudant. Er hatte einen Bleistiftstummel und bemalte die Wände mit schweinischen Zeichnungen. Der Professor war sehr mager. Die Gefängniskluft war ihm viel zu weit. Er hatte einen roten, wilden Bart und ein Kindergesicht mit blauen Augen. »Fangen wir an mit dem schönsten und vergeblichsten Wort der Welt«, sagte er mit einem wunderschönen Lächeln ohne jede Ironie -»mit dem Wort Freiheit – la liberté.«